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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

vielleicht doch in die Residenz zum Grafen? – nein, das war nicht möglich, auch alles Andere, was mir beifiel, nicht wahrscheinlich. Ich fand nichts’ und doch ging ich am andern Morgen, als der Tag graute, fort, um sie aufs Gerathewohl zu suchen. Ich habe sie dann ein Vierteljahr lang gesucht, Tag und Nacht, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, hab’ keine Geschäfte mehr gemacht, nur gefragt und gespürt und gesucht hab’ ich und hab’ sie nicht gefunden! Aber wieder eines Abends, als ich an mein Häuschen kam, da saß vor der Thür ein fremdes Weib, das auf mich wartete und auf den Armen, eingebettet in ein schönes weiches Tragekissen ein Kindchen trng, das mich mit hellen Augen ansah. Das Kind – warst Du.“

„O Gott!“ stöhnte Emil. „Wo aber war – meine Mutter?!“

Felsing schien die Frage zu überhören.

„Die fremde Frau,“ fuhr er fort, „sagte mir, Magdalena hätte sie angewiesen, mir das Kind zu bringen und einen Brief habe sie auch für mich. Ich nahm den Brief und las ihn – ich habe ihn später oft genug gelesen, um ihn auswendig zu wissen. ,Lieber Johann,‘ schrieb sie, ‚ich schicke Dir mein Kind und bitte Dich, es so lange zu behalten, bis der Graf, sein Vater, es bei Dir holen lassen wird. Das wird nicht lange anstehen; denn ich habe ihm schon geschrieben, daß es bei Dir ist. Das Kind gehört ihm; ich darf es nicht mit mir nehmen dahin, wohin ich jetzt gehen will. Ich bitt’ Dich drum, recht Acht darauf zu geben und es ihm richtig zu überliefern. Ich weiß, daß Du meine Bitte erfüllen wirst, es ist die letzte. Suche mich nicht, es würde doch nichts nützen. Leb’ wohl, lieber Johann, und sei tausendmal bedankt für all’ Deine Lieb’ und Treue. Magdalena.‘

Ich drang in das Weib, mir zu sagen, wo Magdalena sei. Sie wußte es selbst nicht. Wohl habe jene bei ihr das Kindchen zur Welt gebracht und habe es gepflegt zwei Monate lang, dann aber habe sie ihr gesagt, sie müßte jetzt verreisen, habe ihr Geld gegeben und sie angewiesen, das Kind mit dem Briefe zu mir zu tragen. Da nahm ich das Kind von ihren Armen und sah es an – ‚Des Grafen Kind!‘ schrie laut der Haß in mir und ein mörderischer Grimm schüttelte mich und ich wollt’ es von mir schleudern, daß es stürbe! Da sah mich’s an mit großen blauen Augen und – ‚Magdalenens Kind!‘ stöhnte leis die alte Liebe und ich küßte es, küßt’ es – und meinte, die Magdalena sei mir nun doch wieder halb geschenkt – und trug’s ins Häuschen und legt’ es in das Bett der Magdalena und holte ihm Milch und gab ihm zu trinken, und setzte mich neben das Bett und wachte wieder und sann die ganze Nacht, wie damals, als sie fortgegangen war. Des andern Tags, dacht’ ich, werde der Graf schicken, um das Kind holen zu lassen, es kam aber Niemand. Ich ließ ein armes altes Weib aus dem Dorfe in das Häuschen ziehen, weil ich’s doch nicht recht verstand, das Kind zu pflegen. Am dritten Tage kamen zwei Forstwächter des Grafen auf mein Häuschen zu. Ich erschrak, denn nun, dacht’ ich, werden sie’s holen, und obwohl ich darauf wartete, daß man käme, fürchtete ich mich doch vor dem Augenblick, wo ich es hergeben sollte. Sie fragten aber nicht nach dem Kinde, sondern sagten, drüben im gräflichen Walde, im Weiher, schwimme die Leiche einer Frauensperson, sie glaubten, es sei die Magdalena –“

„Entsetzlich!“ stammelte Emil – „meine Mutter!“

„Ich solle mit ihnen gehen, um zu sehen, ob dem so sei, sie wollten nur noch den Schulzen dazu holen.“

„Und war sie's wirklich?“ fragte entsetzt, athemlos Emil, „– wirklich – meine Mutter?!“

„Sie war es – wirklich! Sie hatte sich gar nicht verändert und war leicht zu erkennen. Mit gefalteten Händen schwamm sie in dem hellen Wasser des Sees, der mit ihren langen, blonden Haaren spielte.“

Die Aufregung des jungen Mannes war bei den letzten Worten Felsing’s eine furchtbare geworden. Er war von seinem Sitze herunter auf den Boden geglitten und hatte die Arme um die Kniee Felsing’s geschlungen.

„O Gott, Vater,“ schluchzte er krampfhaft, „Du zerreißest mir das Herz! Ich kann, ich kann es nicht ertragen!“

„Auch ich, Emil, glaubte es nicht ertragen zu können und mußt’ es doch, mußte mit ansehen, wie sie aus dem Wasser gezogen, auf eine Tragbahre gelegt und durch den gräflichen Wald, der sproßte und grünte und in dem die Vögel sangen, nach dem Dorfe getragen wurde. Vor dem Dorfe war großer Zusammenlauf mit Geschrei. ‚Die Magdalena! Die Magdalena!‘ schrieen sie durch einander – ‚man hat sie! - sie hat sich ersäuft!‘ – Als ob es die Leiche einer Pestkranken wäre, wehrten sie sich dagegen, daß wir mit ihr das Dorf passirten, und drängten sich doch Alle heran, um das arme Opfer zu begaffen! Die Träger besprachen sich eine Weile mit dem Schulzen, und darauf wurde die Leiche ums Dorf herum getragen. Jenseit des Dorfes ist eine Schlucht, die falsche Klinge genannt, ein unheimlicher Ort, aus abergläubischer Furcht gemieden von den Ortsbewohnern. Dort gruben sie ein Loch und legten sie hinein, deckten sie mit Erde zu und gingen. Vorher aber hatte ich eine von den blonden Locken abgeschnitten, die über die Tragbahre herabhingen, und ein kleines Kreuz von ihrem Halse gelöst, das einzige Erbtheil, das sie ihrem Kinde hinterließ … und dereinst mein Brautgeschenk! …“

Seine Stimme zitterte, Emil hielt seine Hand, und ein unendliches Mitleid mit dem gequälten Mann, in dessen Innerstes er heute zum ersten Male sah, erfüllte sein Herz. Ein paar Augenblicke blieben sie schweigend so, dann zog Felsing die kleine Schachtel aus seiner Brusttasche und reichte sie Emil, der das Kreuzchen und die Locke herausnahm und tiefergriffen an seine Lippen drückte.

„Ich blieb,“ fuhr endlich Felsing in seiner Erzählung fort, „und kniete nieder und sprach ein Gebet. Dann wälzte ich einen schweren Stein auf den Erdhügel und ging nach Hause zu ihrem Kinde – zu Dir!“

Wieder folgte eine lange Pause, endlich sagte Emil gramvoll: „Hätte sie mich doch mitgenommen, daß ich diese furchtbare Stunde nicht zu erleben brauchte!“

„Du siehst jetzt, warum ich gerne geschwiegen hätte,“ erwiederte der Konsul, indem er die Hand auf Emil’s Haupt legte, „aber daß sie Dich nicht mit sich nahm, daran hat sie recht gethan! Ich hab’ es ihr oft gedankt, und auch Du dankst es ihr morgen schon wieder. – Als ich damals nach Hause kam, lachtest Du mir freundlich entgegen, und es war mir ein Trost, daß Du da warst. Und es vergingen Tage und Wochen, und der Graf schickte nicht nach Dir. Da hört’ ich, daß er von der Residenz nach Eckartshausen aufs Schloß gekommen sei mit der jungen Gräfin, seiner Frau. Und ich sagte mir in meinem Gewissen, daß ich den letzten Wunsch Magdalenens nicht unerfüllt lassen, daß ich Dich dem Grafen, Deinem Vater, ausliefern müsse, so gerne ich Dich auch behalten hätte. Und weil er nun noch immer nicht nach Dir schickte und Dich in Saus und Braus so ganz vergessen zu haben schien, so stieg der Gedanke in mir auf, daß ich Dich ihm doch wenigstens einmal zeigen müßte!“

Emil nickte zustimmend. „Nun – und?“ frug er.

„So legt’ ich Dich denn in schöne seidene Tücher und wanderte mit Dir nach Eckartshausen ins Schloß zum Grafen. Als ich am Schloßthor angekommen war, wehrte man mir den Eingang. Bettler würden nicht eingelassen, man werde mir etwas herausbringen.

‚Ich bin kein Bettler,‘ sagte ich, ‚ich will mir nichts holen, ich will dem Herrn Grafen ’was bringen!‘ Und damit ging ich hinein, schritt über den Schloßhof und trat ins Schloß. Dort hielten mich der Jäger und der Kammerdiener des Grafen an. Was ich wollte? ‚Sie möchten dem Herrn Grafen sagen,‘ erwiederte ich, ‚es sei Einer da, der bringe ihm etwas von der Magdalena, das würde er schon verstehen.‘ Die Beiden gingen die Treppe hinauf und ich folgte ihnen auf dem Fuß. Nun ging der Kammerdiener in ein Zimmer hinein, der Jäger wartete bei mir und sah mich und meine Last mißtrauisch an, denn ich hatte Dich ganz unter die Tücher versteckt und Du schliefst und rührtest Dich nicht. Es dauerte nicht lange, so kam der Kammerdiener wieder heraus und fuhr mich an: ‚der Graf habe nichts mit mir zu schaffen, ich solle machen, daß ich fortkäme!‘ Da bewältigte mich der Zorn und ich schrie, daß er’s drinnen hören konnte: ,Ich bringe dem Grafen sein Kind, sein eigen, leiblich Kind, und wenn er auch schlecht genung gewesen, die Mutter zu verlassen, so wird er doch sein Kind nicht verleugnen wollen!‘ Da packten mich die Beiden und stießen und zerrten mich die Treppe hinunter, und Du wachtest auf und fingst an zu wimmern und kläglich zu schreien, und wie ich unten im Schloßhof war und über mich blickte, stand am offenen Fenster

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