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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

er sich ab und schritt lautlos über die Schmelle und die Treppe hinunter.

„Ich habe ihn verloren!“ murmelte er drunten im Weitergehen vor sich hin. „Thor, der ich war, das nicht vorauszusehen, blinder Thor! Das ist nun unsere Rache, Magdalena! …“




11.

Wenn im Norden die ersten Herbststürme durch die sonnenlose Luft toben und kalte Regengüsse als Vorboten des Winters die öden Straßen fegen, dann lächeln dem schönen Landstrich der Riviera di Ponente noch köstliche, goldene Tage.

Weithin gedehnt zieht sich der wundervolle Küstensaum mit seinen Dörfern und Städtchen, den malerischen Felsennestern auf steilem Absturz und den prächtigen Villen, deren Gärten das tiefblaue Meer bespült.

Ueber dem Citronen- und Orangendickicht dieser Gärten heben Palmen Cypressen und Pinien die Häupter empor; an den Felsen gedeihen Feigen und Trauben in üppiger Fülle, das ganze Land zu einem blühenden Garten wandelnd.

Unter dichtem Grün auf halber Anhöhe in der Nähe von Bordighera steht ein kleines Landhaus mit weißen Wänden von dessen Terrasse man das ewige Spiel der Brandung zwischen den Uferfelsen vor sich sieht, und wo das Auge weiterhin die sonst geschwungenen Linien der Bucht verfolgen kann, bis zu der großen Einheit des Meerhorizontes.

In einem Zimmer dieses Landhauses saß mehrere Monate nach den im vorigen Kapitel geschilderten Ereignissen ein junger Mann, welchen wir trotz seines gebräunten Teints und wild wuchernden Vollbartes unschwer als den Pflegesohn des Konsuls, Emil, erkennen. Sämmtliche Läden des Gemachs waren dicht verschlossen, denn draußen leuchtete die Sonne eines prachtvollen Oktobermorgens schon so warm aus dem klaren, wolkenlosen Blau des italienischen Himmels herunter, daß man ihre Strahlen von dem Eindringen ins Haus abhalten mußte, um sich eine erträgliche Temperatur in demselben zu sichern. Nur die nach der bedeckten, schattigen Terrasse führende Flügelthür war offen geblieben.

Der junge Mann saß vor einem mit Büchern und Papieren aller Art bedeckten Tische und schien eifrig in den letzteren zu lesen.

Plötzlich hob er den Kopf und lauschte.

Dicht vor seinen Fenstern ertönte eine helle Frauenstimme, welche ein deutsches Lied sang. Es war das alte, ewig junge Liebeslied Walter’s von der Vogelweide:

„Unter der Linden, auf der Heide,
Wo ich mit meinem Trauten saß,
Da mögt ihr finden, wie wir Beide
Blumen brachen und das Gras.
Vor dem Wald mit süßem Schall –
      Tanderadei –
Sang im Busch die Nachtigal.“

Wunderbar rein und zart klangen die Töne durch das stille Gemach.

Der junge Mann schien die unsichtbare Sängerin wohl zu kennen, denn ein freundliches Lächeln erhellte, während er lauschte, seine Züge.

Die letzten Töne des Liedes waren noch nicht verhallt, als sich auf der Schwelle der offenen Thür eine auch uns wohlbekannte Erscheinung zeigte: Gabriele Hochberg.

Ein einfacher Strohhut beschattete ihr hübsches Gesicht, aus welchem die blauen Augen noch immer keck und fröhlich herausblitzten.

„Wahrhaftig,“ begann sie, „da sitzt er noch immer, der entsetzliche Bücherwurm, und stöbert in alten Papieren herum, während draußen der herrlichste Morgen heraufgezogen ist und das Meer in den prachtvollsten Farben glänzt! Schau her,“ fuhr sie fort, auf einen Armkorb deutend, den sie auf einen Stuhl niedersetzte – „die herrlichen Orangen! Eine davon sollst Du bekommen – diese rothe nicht – nein – die bekommt Richard!“

„Natürlich, o, das versteht sich ja von selbst,“ lachte Emil, „daß Richard die rothe bekommen muß! Was macht er denn im Augenblick? Mich nimmt Wunder, daß Du Dein Observatorium schon verlassen hast, von welchem aus Du jede seiner Bewegungen beobachtest.“

„Er muß einen interessanten Fang gemacht haben; denn er hat die Barke schon verlassen und sich in sein Strandhäuschen zurückgezogen!“

„Ah so,“ erwiederte Emil mit spöttischem Tone, „deßhalb bist Du auch schon hier! Ohne Richard hat ja der herrliche Morgen und der glänzende Meeresspiegel weiter kein Interesse mehr!“

„Höre, Emil!“ fiel ihm Gabriele in die Rede, weißt Du wohl, daß Du ein recht langweiliger Mensch geworden bist, der den Kopf aus seinen Büchern und Schreibereien nur herausstreckt, um seine arme Schwester mit anzüglichen Redensarten zu quälen? Geh, Du bist ein herzloser Mensch!“

Emil nickte freundlich.

„Spanne Deine Phantasie besser an, Gabi,“ sagte er dann ermunternd, „‚langweiliger, herzloser Mensch‘ befriedigt meinen Ehrgeiz nicht, das sind zu allgemeine Titel. Wenn Du mich wenigstens einen raffinirten Barbaren genannt hättest, wie gestern, als ich Richard zu einem kleinen Spaziergang mit mir allein aufforderte.“

„Ganz recht,“ fiel Gabriele ein, „das bist Du auch, ein heuchlerischer, unschuldig thuender Barbar, der den Frieden zwischen Eheleuten stört und Einem sogar das Bischen Unterhaltung mit dem Fernrohr mißgönnt! Was Anderes bleibt einer armen Frau übrig, deren Mann jeden Morgen, den Gott giebt, an den Strand rennt, um Fische und Quallen und andere See-Ungethüme zu fangen und in einer eigens dazu erbauten Holzhütte stundenlang zu beobachten, während ihr Herr Bruder den ganzen lieben, langen Tag Untersuchungen und Berechnungen über Konsumvereine und Volksküchen, Arbeiterwohnungen und Arbeiterassociationen macht und zwischen hinein zur Abwechselung in alten Briefschaften kramt!“

„Des Weibes Schicksal ist beweinenswerth!“ citirte Emil in tragischem Tone. „Arme Gabriele! Daß Du unglücklich bist, sah ich gleich, als ich ankam, aber von dem wirklichen Umfang dieses Unglücks hatte ich doch noch keine Ahnung … bekommen wir bald etwas zu frühstücken? Es ist unglaublich, wie das Mitgefühl den Appetit schärft!“

Gabriele schüttelte seine versöhnungsuchende Hand energisch ab und fuhr unbeirrt in ihrem Texte fort:

„Früher durft’ ich doch mit Richard auf den Fang fahren, ja, er nahm mich sogar in die geheimnißvolle Holzhütte mit, wo er seine Schätze aufbewahrt und seine Untersuchungen macht. Aber es dauerte nicht lange, so behauptete er, ich sei zu unruhig und ihm fehle, wenn ich um ihn sei, die nöthige Aufmerksamkeit zu seinen Beobachtungen. Ich durfte also nicht mehr mit an den Strand, mußte hier oben bleiben. Was sollt’ ich machen? Der gute Papa muß absolute Ruhe haben, Mama geht nicht von seiner Seite, und wollt’ ich mich mit Dir unterhalten, so hattest Du auch nie Zeit. Ist es da ein Wunder, wenn ich in meiner Verzweiflung auf die Idee kam, mir ein Fernrohr aufstellen zu lassen, mit welchem ich nach Richard’s Station hinuntersehen kann?!“

Sie hielt erschöpft inne.

„Ja,“ lachte Emil. „ein Fernrohr und einen Flaggenstock dazu, um durch das Aufziehen verschiedenartiger Fahnen ihm wichtige Mittheilungen aus der Entfernung machen zu können. Die weiße Flagge zum Beispiel, wenn ich nicht irre, bedeutet: ‚Richard, ich liebe Dich!‘ – die blaue: ‚Richard, ich liebe Dich unaussprechlich!!‘ – die rothe aber: ‚Richard, ich liebe Dich rasend und sehne mich dermaßen nach Dir, daß, wenn Du nicht augenblicklich nach Hause kommst, ein Unglück geschieht!!!‘“

„Abscheulicher Mensch!“ rief Gabriele aus, indem sie auf Emil zusprang, welcher aber geschickt hinter den Tisch retirirte und vor Lachen kaum noch die Worte herausbrachte.

„Ja, ja, Du bist erkannt, Gabi! Die rothe Fahne ist das Nothsignal Deiner Sehnsucht!“

Gabriele nahm, da sie sah, daß sie hier doch nichts ausrichten konnte, plötzlich eine gravitätische Miene an.

„Ich finde es unter meiner Frauenwürde, auf solche Dummheiten zu antworten. Es ist ja doch nur der reinste Neid von Dir, ja, Neid und Eifersucht. Im Uebrigen weißt Du recht wohl, daß die rothe Flagge bedeutet, es sei höchste Zeit, daß er

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 558. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_558.jpg&oldid=- (Version vom 27.11.2023)