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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

und bewahren Sie mir ein gutes Andenken!“ Er stieg behende die Treppe hinab, nahm mit Sicherheit in dem schwankenden Fahrzeuge Platz, löste das Tau und stieß ab. Ein einziger Ruderschlag brachte ihn hinter das Schiff. Ich sah ihm nach. Sein Gesicht war mir zugewandt, aber er blickte nicht wieder auf. Es war ein Antlitz so starr und kalt wie das eines Todten. – Er spielte anfänglich mehr mit den Rudern, als daß er arbeitete, und bog langsam nach dem entgegengesetzten Ufer ab. – Herr Boswell, der Steuermann, hatte sich zu mir gesellt.

„Herr Büchner sollte sich mit dem kleinen Ding nicht zu breit vor den Strom legen,“ sagte er.

Es war, als ob der lange Holländer es vernommen hätte, denn in demselben Augenblick schlug er mit dem einen Ruder kräftig ein; das Boot machte eine viertel Wendung und lag gerade mit der vollen Strömung. Und nun begann Büchner wirklich zu arbeiten. Wie ein großes Pendel schwang der lange Körper vor- und rückwärts. Ich erkannte an der regelmäßigen Geschwindigkeit und dem großen Umfang der Bewegungen, daß Büchner sich, weit ausgreifend, mit der ganzen Kraft seines schweren Körpers auf die Riemen legte.

„Wenn Herr Büchner noch zehn Minuten so weiter fährt, so gebraucht er eine Stunde, um zurückzukommen,“ bemerkte der Steuermann. Er setzte das Glas, das er in der Hand hielt, ans Auge und beobachtete den Davoneilenden etwa eine halbe Minute lang, dann reichte er mir das Instrument, ohne ein Wort zu sagen.

Büchner war bereits über die Sutschow-Creek hinaus und näherte sich dem Ausgang des Hafens.

„Mein Boot,“ rief ich, „und die vier besten Männer!“

Jedermann verstand, was es galt. Eine Minute später hielt ich das Steuerruder der Gig: „Nun Leute! Euer Bestes!“

Alle hatten sie den langen Holländer lieb gewonnen, wennschon der stille Passagier kaum je mit einem von ihnen gesprochen hatte. Wir flogen durch die Bai. Das kleine Fahrzeug erbebte bei jedem Ruderschlag. Von den Schiffen aus, an denen wir vorbeifuhren, blickte man uns nach. Man meinte wohl, wir liefen ein Rennen gegen Zeit. Aber so hatten meine Leute noch in keiner Regatta gearbeitet. – Jetzt waren wir an Sutschow-Creek vorüber, In weiter Entfernung sah ich den „Outrigger“, und durch das Glas konnte ich erkennen, daß der lange Holländer noch immer mit voller Kraft ruderte. Der eine und der andere meiner Leute versuchte, sich nach ihm umzudrehen – aber die schwere, schnelle Arbeit gestattete es nicht.

„Nun, Kapitän?“ fragte der Mann am Schlagruder.

„Vorwärts, Männer! Ich sehe ihn.“

Und die Schwingungen der Leute über den Riemen wurden noch weiter und schneller. Es war ein kalter Abend – aber der Schweiß rann ihnen von den Stirnen.

Die Entfernung zwischen uns und dem „Outrigger“ verringerte sich. Ich zog ein Tuch aus der Tasche und stand auf und winkte damit. Es kam mir vor, als ob Büchner jetzt langsamer führe.

Ich sah durch das Glas. – Richtig! Er hatte die Riemen gehoben und ließ sich vom Strome treiben.

Ich gab das Signal. „Eins, zwei, drei: Hurrah!“ und noch einmal: „Eins, zwei, drei: Hurrah!“ riefe wir Fünf wie aus einer Kehle.

Der Wind trug den Schall zu dem Flüchtigen. Aber der hatte die Ruder wieder ergriffen, und sein Fahrzeug flog vor uns dahin. – Die Jagd hatte schon über eine halbe Stunde gedauert. – „Vorwärts, Leute! Muth!“ – Sie keuchten schwer, aber arbeiteten tapfer weiter. Die Nacht brach schnell herein. – Kaum konnte ich das Boot vor mir noch auf dem grauen Wasser unterscheiden. – „Was ist das?“ – Ich suchte es mit dem Glase – da schwamm es – leer! Nach wenigen Minuten lagen wir daneben.

Die Leute beugten die Köpfe bis dicht über das Wasser und sahen scharf aus nach allen Richtungen. Nirgends eine Spur vom langen Holländer. Im Boote fanden wir seinen Hut und die sorgfältig zusammengelegte Jacke. Wir suchten das Wasser noch eine halbe Stunde lang ab. Da war es dunkle Nacht geworden, und wir mußten die Rückfahrt antreten. Bald darauf ging der Mond auf, und es wurde wieder heller. Auf halbem Wege, den Strom hinauf, kam uns eine dunkle Masse entgegengeschwommen: die „Aurora Belisle“. Boswell hatte schon vom Deck aus gesehen, daß wir fünf Mann an Bord des Gig waren; und als auch der leere „Outrigger“ aufgezogen wurde, da brauchte ich ihm nicht erst zu sagen, was vorgefallen war.

Am nächsten Morgen begegneten wir, noch im Fluß, einer Bark, die nach Shanghai ging. Der gab ich einen Brief für Frau Onslow mit. An Frau Edith zu schreiben hatte ich nicht den Muth.

Wir bekamen schlechtes Wetter und machten eine lange Reise bis Hongkong. Bei meinem dortigen Agenten fand ich von Frau Onslow einen Brief, der mir von dem Jammer ihrer Freundin erzählte. Die Leiche Büchner’s war nicht gefunden worden. Sein Freund, der Wussong, hatte sie hinausgetragen in das graue Meer.

Ich kehrte damals nicht nach Shanghai zurück, da ich Fracht für London bekam und im December nach dort absegelte. Ich war jedoch mit Frau Onslow in Verbindung geblieben und erfuhr durch diese im Laufe der Zeit, Edith habe ein ganzes Jahr in vollständiger Zurückgezogenheit verbracht, den Verstorbenen beweinend, ihrem Schmerze allein lebend, ohne Trost zu suchen, ja zunächst ohne Trost empfangen zu wollen. Aber der friedliche Bote hatte nicht allzu lange vergeblich an das junge Herz geklopft. Ungefähr zwei Jahre, nachdem ich Shanghai verlassen hatte, schrieb mir Frau Onslow, Edith habe endlich dem langen, treuen Werben Francis Morrisson’s nachgegeben und sich mit diesem vermählt. „Jedermann,“ so schloß der Brief, „wünscht ihr von Herzen, sie möge an seiner Seite das Glück finden, das sie durch ihre treue Liebe für unsern armen verstorbenen Freund, nach dem schweren Trübsal, das sie erduldet, so reichlich verdient hat. Aber sie sieht noch nicht glücklich aus, wenn sie auch wieder ruhig und freundlich geworden ist und von ihrer Menschenscheu geheilt erscheint. Sie würden in der stillen Frau mit den ernsten Augen die lachende Edith Rawlston kaum wiedererkennen. – Und wissen Sie, Kapitän, was sie am meisten zu Francis Morrisson hingezogen hat? – Daß er Georg’s Freund im Unglück war, daß er stets an seine Unschuld glaubte, daß er den Armen in seinem Elend bemitleidete und ihm hilfreich zur Seite stand. Das hat ihn der guten kleinen Frau theuer gemacht; das hat sie ihm nie vergessen; das allein war es, was ihm zuerst die Thüren ihres Hauses wieder öffnete, die, nach Büchner’s Tode, außer für ihren Bruder und für mich, ein Jahr lang Jedermann verschlossen blieben. – Als ich erkannte, wie die Sachen lagen, daß Francis Morrisson Edith liebte, daß es der Zweck seines Lebens sein würde, sie glücklich zu machen, da habe ich gethan, was in meinen Kräften stand, um die Trauernde dem neuen Werben zuzuneigen. Es ist mir endlich gelungen – und ich glaube damit ein gutes Werk gethan zu haben.“

Der nächste Sommer brachte mich wieder nach Shanghai. Aber meine Freunde Morrisson und Onslow waren vor der Hitze nach Chefoo im Norden entflohen, wohin ich ihnen nicht folgen konnte.

Eines Tages machte ich dem Kirchhof meinen Besuch. Ich thue dies jedesmal, wenn ich nach Shanghai komme. Früher kannte ich dort Niemand, heute ruht dort so Mancher, den ich im Leben lieb gehabt habe. Ich suchte nicht nach Büchner’s letzter Ruhestätte, denn ich wußte, ich würde sie nicht finden können. Aber als ich durch die stillen Reihen schritt, fiel mein Blick auf ein mit frischen Blumen bedecktes Grab; darauf stand ein Kreuz aus schwarzem Marmor. – Der Stein trug ein Datum – aber keinen Namen!

Ich blieb sinnend stehen. – Wie kam das Grab eines Namenlosen zu solch’ liebevollem Blumenschmuck? Da erblickte ich den Todtengräber und winkte ihn herbei.

„Wer ruht in diesem Grabe?“ fragte ich.

„Ein Fremder, ein Italiener, so hat man mir gesagt.“

„Und wer sorgt für das Grab?“

„Frau Francis Morrisson. Augenblicklich bin ich damit beauftragt, da sie verreist ist. Der Fremde hier soll eines Herrn Büchner, des ersten Mannes von Frau Morrisson, treuer Freund gewesen sein; aber Herr Büchner hat auf diesem Friedhof keine Stätte, und so kommt die Frau und betet an dem Grabe des Fremden, als wie an dem ihres verstorbenen Mannes. Eine treue Frau – und eine mildthätige Frau. – Gott segne sie!“

Dazu sagte ich: „Ja und Amen!“




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