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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Du gefällst mir auch nicht,“ sagte Büchner, seine Frau mit inniger Liebe betrachtend. „Wo sind Deine hellen Augen und Deine frischen Farben geblieben?“

„Die hat der heiße Sommer fortgenommen; aber jetzt wird Alles gut werden. Merke Dir, ich lasse Dich nie wieder auf so lange Zeit fort!“

„Ich gehe auch nicht wieder. Es war recht einsam da drüben.“

„Warst Du denn immer allein, mein armer Georg?“

„Nein, ich verkehrte mit Doktor Jenkins. Ein guter Mann! Auch die Bekanntschaft mit ihm verdanke ich Prati. Wo steckt der übrigens?“

Dieser ließ nicht lange auf sich warten. – Die Begrüßung zwischen den beiden Freunden war herzlich, jedoch ruhiger seitens des Italieners, als man nach dessen gewöhnlichem Gebaren erwarten durfte. Es war vielmehr, als ob zwei Engländer sich wiedersähen: ein kräftiger Händedruck – und damit basta. Unter gewöhnlichen Verhältnissen wäre es zwischen dem Deutschen und Italiener ohne eine herzhafte Umarmung nicht abgegangen. Büchner, der von Natur zurückhaltend und ein Feind lebhafter Gemüthskundgebungen war, bemerkte Prati’s Ruhe nicht, aber nach einer Weile fiel ihm doch das stille Wesen seines Freundes auf.

„Fehlt Ihnen etwas, Prati?“ fragte er theilnehmend, und um seine Sorge für das persönliche Wohl Prati’s zu verbergen, fügte er hinzu: „Es ist doch nichts Unangenehmes im Geschäfte vorgefallen?“

„Durchaus nicht. Alles geht nach Wunsch. Aber ich bin etwas abgespannt. Der Sommer war diesmal recht schwer und ich habe mehrere weite Ausflüge ins Innere gemacht, die nicht gerade Erholungsreisen waren. Hinter Sutschow sieht es erschrecklich aus. Es wird Jahrzehnte dauern, ehe sich das Land von den Verheerungen der aufständischen Tai-ping erholen kann. Ueberall Trümmer und furchtbares Elend. Die Leute verhungern zu Tausenden und unter den Ueberlebenden wüthen Pestilenz und Cholera. Ich habe eigentlich ganz gute Nerven, aber diesen Sommer ist ihnen doch ein Bischen zuviel zugemuthet worden. Das ist Alles! Die kühle Jahreszeit wird mich schon wieder gesund machen.“

Als Prati sich entfernt hatte, begann Edith ausführlich zu erzählen, wie sie während der Abwesenheit ihres Mannes gelebt hatte. Sie war voll des Lobes der unermüdlichen Aufmerksamkeit und Freundschast von Prati und Frau Onslow und brachte das Gespräch, anscheinend unbefangen, auf die geselligen Abende, die sie bei dieser zugebracht hatte. Büchner sagte kein Wort und machte keine Bewegung, als von dem häufigen Zusammentreffen mit James Rawlston und Francis Morrisson die Rede war. Edith aber wollte eine Erklärung von ihrem Mann über diesen Punkt haben und fragte geradezu, ob er es billige, daß sie die Beiden oftmals gesehen habe. Er schwieg eine Weile und sagte dann milde:

„Ich weiß, wie sehr Du Deinen Bruder liebst. Also sieh’ ihn, so oft Du es wünschest. Ich zürne ihm nicht mehr … aber … nun, wozu soll ich Dir lange Erklärungen machen, da Du ja doch ohnehin weißt, wie ich fühle – ich für meine Person sehe ihn lieber nicht.“

Von Morrisson war nicht weiter die Rede gewesen. Büchner stellte seiner Frau augenscheinlich frei, ihn zu sehen oder nicht, ganz wie es ihr gefiel.

„Wirst Du Frau Onslow einen Besuch machen?“ fragte Edith schüchtern.

„Es geht wohl nicht gut anders,“ antwortete Büchner; „sie würde es mir übelnehmen, wenn ich sie nicht aufsuchte, und sie ist eine gute Frau. Wir wollen lieber gleich heute Abend zu ihr gehen, dann ist die Sache abgemacht, und ich brauche nicht mehr lange darüber nachzudenken.“

Edith willigte freudig ein, und die Beiden verbrachten den Abend bei ihrer redseligen Freundin. Diese verstand es, Alles in ihrer Unterhaltung zu vermeiden, was Büchner unangenehm hätte berühren können, so daß dieser zufrieden von dem Besuche den Heimweg antrat und unterwegs zu Edith sagte: „Sie ist doch wirklich eine herzensgute Frau. Und wenn ich bedenke, wieviel ich ihr zu verdanken habe! Geh’ recht häufig zu ihr und unterhalte Dich dort, so gut Du kannst, natürlich auch mit Deinem Bruder. Es ist mir eine Beruhigung, mir sagen zu können, daß Du durch meine Schuld nicht entbehrst, wonach Du Dich sehnst. Hörst Du, Edith? Sieh Deinen Bruder recht oft. Es macht mir Freude. Ja, sicher, jetzt, da ich darüber nachgedacht habe: es macht mir Freude, ich bitte Dich darum.“

„Du guter Mann!“ sagte Edith.

Die nächsten Monate gingen ruhig vorüber. Büchner machte sich viel im Komptoir zu thun, unternahm lange Spaziergänge und Spazierritte mit Prati und trieb sich in einem schmalen leichten Boote, einem „Outrigger“, auf dem Wussong umher. Das kleine Fahrzeug aus Mahagoniholz, ein Meisterstück der Schiffbaukunst, war auf einer Gewerbeausstellung in San Francisko durch eine Medaille ausgezeichnet worden. Wer es nach Shanghai gebracht hatte, weiß ich nicht mehr. Es war dort lange unverkäuflich geblieben, weil sich kein Liebhaber für das theure Spielzeug gefunden, bis Prati es eines Tages entdeckt und für Büchner gekauft hatte, der von jeher ein großer Freund des Rudersports gewesen war. Der lange Holländer nahm das hübsche Geschenk dankbar an, ließ es mit großer Sorgfalt in Stand setzen und begab sich damit, sobald es tüchtig war, auf den Wussong. Für einen reißenden Strom mit zahlreichen Strudeln und Schnellen und häufig starker Wellenbewegung war das leichte Fahrzeug nun aber nicht berechnet, und Prati machte sich klar, als er Büchner in demselben durch den Hafen fahren sah, daß er seinem Freunde ein etwas gefährliches Geschenk gemacht hatte. Aber der lange Holländer war einer der besten und sichersten Ruderer der fremden Kolonie und ein ausgezeichneter Schwimmer. Wenn sein Boot auch wirklich zu Schaden kommen sollte, so war bestimmt anzunehmen, daß er selbst sich aus demselben mit Leichtigkeit so lange würde halten können, bis ihm Hilfe käme. Daß er sich unterhalb des Hafens hinauswagen sollte aus dem Bereich der Schiffe, die dort zu jeder Jahreszeit vor Anker lagen – an eine solch’ waghalsige Thorheit brauchte man nicht zu denken. Büchner hegte auch nicht entfernt die Absicht, etwas Aehnliches zu unternehmen, und seine weitesten Fahrten brachten ihn auf die andere Seite des Wussong, bis wohin Prati ihn von scharfen Matrosenaugen beobachtet wußte. Denn Jack (englischer Spitzname für den Matrosen) sagte sich natürlich, einmal werde das kleine Ding doch wohl kentern, und dann seien für Denjenigen, der mit seinem Boote am schnellsten am Orte des Unfalls eintreffe, wohl einige zwanzig Dollars zu verdienen.

Der Sommer verging – die Tage wurden kürzer, die Spazierritte mußten verkürzt, die Fahrten auf dem Wussong ganz eingestellt werden. Es kamen die langen Abende, und Büchner war während derselben nicht selten allein.

Frau Edith hatte von der ihr ertheilten Erlaubniß, mit ihrem Bruder bei Frau Onslow zusammenzutreffen, anfänglich nur bescheidenen Gebrauch gemacht. Aber die harmlosen Besuche, die ihre einzige Zerstreuung bildeten, waren mit der Zeit häufiger geworden. Die Wirthschaft gab ihr, wie allen anderen Frauen in Shanghai, nichts zu thun. Sie hatte nicht gelernt, sich um Küche, Speisekammer und Wäscheschrank zu bekümmern. Das war Sache des Cook, des Boy und der Ama (Koch, Diener, Kammerfrau). Was sollte sie thun, während Georg im Komptoir arbeitete oder auf dem Wussong lag oder seine langen einsamen Spaziergänge machte, die ihm, dem Anscheine nach, ein Bedürfniß geworden waren? Besuche empfing sie nicht und hatte deßhalb auch keine zu erwiedern. Sie konnte doch nicht den ganzen Tag Romane lesen und sticken, und es war natürlich, daß sie sich bisweilen auch nach anderer Gesellschaft sehnte, als der des nachdenklichen Mannes, der ihr am Abende unendlich freundlich und liebevoll, aber wortkarg und traurig in dem stillen Salon gegenübersaß, bis die Uhr endlich, manchmal nach recht langer Weile, ankündigte, es sei nun an der Zeit, nach der ermüdenden Einförmigkeit des Tages die nächtliche Ruhe zu suchen. Sie bedurfte nicht so vieler Ruhe. Sie war jung! Bei Frau Onslow wurde sie mit offenen Armen empfangen, verzogen, wie sie es als Mädchen gewöhnt gewesen war. Ihr Bruder überhäufte sie seit ihrer Versöhnung mit Aufmerksamkeiten aller Art. Herr Morrisson brachte ihr neue Bücher. Selbst Herr Onslow entrichtete seinen Tribut, indem er ihr Geschichten aus der Shanghaier Gesellschaft erzählte, der sie seit ihrer Verheirathung fern stand, aber die für sie natürlich ein Interesse bewahrt hatte.

Das Wetter war rauh und unfreundlich geworden. Drei Abende hinter einander hatten Büchner und Edith sich allein gegenüber gesessen. Prati war auf einem seiner zahlreichen Ausflüge in das Innere und durfte erst in einer Woche etwa zurück erwartet werden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 519. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_519.jpg&oldid=- (Version vom 3.4.2023)