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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

No. 30.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der lange Holländer.

Novelle von Rudolph Lindau.
(Fortsetzung.)


Einen Monat lang schien es, als ob Alles gut werden wollte. Büchner’s Freunde wetteiferten während dieser Zeit mit einander, ihm zu zeigen, daß er ihr Vertrauen nicht verloren habe. Er empfing zahlreiche Einladungen von ihnen, bis bekannt wurde, er fühle sich noch angegriffen von der Aufregung der letzten Wochen und wünsche bis zu seiner Verheirathung zurückgezogen zu leben und nur mit seiner Braut und Frau Onslow zu verkehren. Das fand man in Ordnung und ließ ihn unbehelligt. Der Einzige, der sich nicht aus seiner Nähe vertreiben lassen wollte, war Prati, der sich auch mit Frau Onslow befreundet hatte und der keinen Tag vorübergehen ließ, ohne mit Büchner in dessen oder in Frau Onslow's Wohnung zusammenzutreffen.

Prati zeigte sich eifrig bemüht, eine Versöhnung zwischen Rawlston und Büchner herbeizuführen. Aber in dieser Beziehung scheiterte alle Beredtsamkeit an Büchner’s entschieden ablehnender Haltung. Hätte sich Edith mit ihm verbunden, so wäre es den Beiden vielleicht gelungen, Büchner’s Starrsinn zu beugen, aber das junge Mädchen stand auf Seiten ihres Verlobten. „James hat sich zu schlecht benommen,“ sagte sie. „Es ist unmöglich, daß Georg ihm jetzt schon verzeihe. Heute könnte es sich doch nur um eine Scheinversöhnung handeln. Ich selbst möchte meinem Bruder noch nicht wieder gegenübertreten. Später vielleicht, aber heute nicht.“

„Aber mein liebes, gnädiges Fräulein, seien Sie doch nicht so hart,“ entgegnete Prati. „Dem reuigen Sünder gegenüber soll man Barmherzigkeit üben. Und wenn Sie wüßten, wie reumüthig Ihr armer Bruder ist! Sie sind doch eine gute Schwester! Sehen Sie denn nicht, daß Sie ihn unglücklich machen, daß Sie ihm seine Stellung hier verderben? Denn keiner von Büchner’s Freunden will mit ihm umgehen, so lange Sie nicht mit ihm verkehren.“

„Das thut mir leid,“ antwortete Edith, „aber er hat sich zu schlecht benommen. Bedenken Sie doch, daß er mich gewaltsam von Georg losreißen wollte. Wie konnte er ihn je eines Diebstahls für fähig halten! – Nein, es geht wirklich nicht! Wir können vorläufig nicht zusammentreffen.“

„Und der Brief, den er an den Untersuchungsrichter geschrieben hat? Zeigt der nicht deutlich, was er von Büchner stets gehalten?"

„Lieber Herr Prati, lassen wir das! Sie haben die besten Absichten. Ich bin Ihnen dankbar für alle Freundschaft, die Sie uns in dieser schweren Zeit erwiesen haben und noch erweisen möchten. Ich bin Ihnen auch für Ihre Freundschaft zu meinem Bruder dankbar. Aber Alles, was Sie sagen und sagen konnten, macht nicht ungeschehen, daß James mir ins Gesicht gesagt hat, Georg sei ein Dieb. Ich wünsche, der Tag möge bald kommen, wo ich das vergessen habe; heute


Marcella Sembrich.
Nach einer Photographie von E. Bieber, königl. Hof-Photograph in Hamburg.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 485. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_485.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2022)