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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


St. Moritz-Bad.

Ein Oberengadiner Sommerbild von Woldemar Kaden.

 „Ihr Alle fühlt geheimes Wirken
 Der ewig waltenden Natur,
 Und aus den untersten Bezirken
 Schmiegt sich herauf lebend’ge Spur.“
 Faust, II. Theil.

Das dritte Kraut des Monds wird genannt Chynostacte (Hundsträuble). Sein Safft hilfft ab den Verbitterungen des Magens und der Brust, heilet die Kröpfe, die Ohrmützel und das Zäpflein, indem es sich erweißt ein Kraut des Monds. Die Blüte eben dieses Krauts reinigt die grosse Miltz und heilet sie: weilen es ab- und zunimmt wie der Mond.“ Dies ist ein Receptpröbchen aus dem wunderlichen Werke „Ein Gebünd oder Buch der Geheimnissen Alberti Magni. Von denen Tugenden der Kräuter, Steine und etlicher Thiere. In Verlegung Johann Hoffmann’s, Buch- und Kunsthändlers. Nürnberg 1678“.

Dies wäre denn also ein Werk aus der Zeit der „dunklen Ehrenmänner“, wie Faustens Vater einer war, „der in Gesellschaft von Adepten“ in „schwarzer Küche“ die widrigsten Arzneien braute und über dessen mit ihm in Gemeinschaft verübter Medicinpfuscherei sein Sohn die schwere Anklage ausspricht.

„So haben wir mit höllischen Latwergen
In diesen Thälern, diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest gehaust.“

Ihre Patienten starben, und nur sogenannte Pferdenaturen überwanden die gewaltthätigen ärztlichen Eingriffe.

Campfèr mit Blick auf Crest’alta und Piz della Margna.
Nach einer Photographie von R. Guler, Zürich und St. Moritz.

Dagegen ist es denn nun eine Freude zu sehen, wie wir es so herrlich weit gebracht. Zwar verordnet man den Patienten noch immer Steine, Kräuter und Wasser, aber mit dem Unterschied, daß sie dieselben an Ort und Stelle, im Wald und auf der Wiese, in Thälern und Gebirgen, mit einem Wort in der „lebendigen Natur“ aufsuchen müssen. Die medicinischen Werke und die Apotheker lösten sich in Wasser und Luft auf, und statt der klassificirten tausend Arzneimittel hat man jetzt eine herzerfreuende Klassifikation der Kurorte, die sich in zwei grosse Gruppen theilen: in solche mit Mineralquellen und in solche ohne Mineralquellen. Beide sind zahllos gerade in der Schweiz vertreten, und fast keine Krankheit bleibt ohne ihre helfende Quellnymphe; nur muß man durch seinen Arzt die richtige herausfinden lassen, muß man wissen, ob man einfache Kochsalzquellen, salinische, Natronquellen, Säuerlinge, Kalkquellen, Eisenquellen, Schwefelwasser, jodhaltende oder indifferente Quellen zu gebrauchen und also nach Baden-Baden, Marienbad, Wildungen, Pyrmont, Lippspringe, Rigi-Kaltbad – oder nach St. Moritz zu gehen hat.

Hier heißt es: sage mir, was Dir fehlt und ich werde Dir sagen, was Dir nützt.

Du bist eine schwache Person, bedarfst nach schwerer Ueberarbeitung der Erholung, Deine Ernährung im Allgemeinen wie in Bezug auf einzelne Organe ist gestört, Du leidest an Skrophulose oder Rhachitis; Deine Rekonvaleseenz von der letzten Krankheit ist eine erschwerte, Du bist blutarm, bleichsüchtig, hysterisch, hypochondrisch, verbringst Deine Nächte schlaflos, bist häufig chronischen Magen- und Darmkatarrhen unterworfen – gehe, dies ist der Rath des Arztes, nach St. Moritz-Bad, und nach drei bis vier Wochen wirst Du einen neuen Adam angezogen haben. St. Moritz-Bad, das weiß heute alle Welt, ist das Quisisana aller Heilbedürftigen.

Wo aber liegt dieses Quisisana?

In den vierziger Jahren, wo der Name des „Engadin“ in Europa noch fast unbekannt war, hätten nur Wenige diese Frage beantworten können, heute weiß jeder Sommerfahrgast, wo er das Engadin und mit ihm St. Moritz-Bad zu suchen hat. In heller Begeisterung hebt er seine Hand, deutet nach der Schweiz hinab und spricht:

„Dahinten, da, wo der Piz Bernina, 4052 Meter hoch, ein majestätischer Herrscher, silberweiß in den Aether steigt, wo der

Inn seine kräftigen Wogen durch drei krystallklare Seen wälzt,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 477. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_477.jpg&oldid=- (Version vom 30.7.2023)