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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Als er über den Hof ging, sah er in der Kaffenstube am offenen Fenster das vergrämte Gesicht des langen Holländers, der hinter seinen großen Büchern saß und eifrig zu arbeiten schien.

„Der Halunke!“ sagte Rawlston vor sich hin, „sieht aus, als ob er kein Wasser trüben könnte, und hat das Geld so sicher gestohlen, wie ich hier gehe.“

Er wollte den Hof verlassen und sich auf den „Bund“ (den Hafendamm des Fremdenquartiers in Shanghai) begeben, um seine Nerven durch einen Spaziergang zu beruhigen, als ihm im Thorweg ein kleiner blasser Mann mit dunklem Vollbart und schlichtem, schwarzem, glänzendem Haare entgegentrat, der ihn mit seinen großen, klugen Augen freundlich anblickte und ihm artig lächelnd „Guten Tag“ bot.

„Seit wann sind Sie wieder hier, Herr Prati?“ fragte Rawlston.

„Ich bin in diesem Augenblicke zurückgekommen.“

„Nun, haben Sie etwas mitgebracht?“

„Ich bin ganz zufrieden. Ich habe etwa zwanzig Ballen Seide bekommen. Die Qualität ist nicht schlecht, und jedenfalls ist die Waare sehr billig.“

„Das ist recht angenehm! – Angenehme Nachrichten kommen in diesem Augenblick ganz besonders erwünscht.“

„Weßhalb gerade in diesem Augenblick?“

„Nun, wegen des verdammten Diebstahls.“

Herr Prati sah Herrn Rawlston mit seinen beredten Augen fragend an. „Von welchem Diebstahl sprechen Sie?“

„Haben Sie von der Sache noch nichts gehört?“

„Ich steige soeben aus dem Boote, Herr Rawlston. Seit acht Tagen habe ich mit keinem Menschen außer mit unseren Chinesen ein Wort gewechselt.“

Herr Prati war der italienische Seideninspektor des Hauses Rawlston & Co., ein sehr angesehener und der bestbezahlte Angestellte des Geschäftes. Er kehrte soeben von einer Reise in das Innere zurück, wo er Seideneinkäufe gemacht hatte.

„Lassen Sie sich die Geschichte von Büchner erzählen,“ fuhr Rawlston fort, „der kennt sie am besten, und seien Sie so freundlich, nach dem Essen zu mir zu kommen, damit wir noch wegen der Seide sprechen. In diesem Augenblick bin ich zu keiner Arbeit aufgelegt. Auf Wiedersehen heute Abend!“

„Ihr gehorsamster Diener!“

Herr Rawlston begab sich auf den Bund und Herr Prati in das Komptoir, wo er von seinen Genossen freundlich begrüßt wurde. Als er an Büchner’s Pult trat, das im Kassenzimmer allein stand, drückte er die Thür hinter sich zu, und nachdem er mit dem Kassirer einen freundschaftlichen Händedruck gewechselt hatte, sagte er theilnehmend: „Was ist denn das für eine Geschichte, die Rawlston soeben andeutete, – ein Diebstahl?“

Der lange Holländer blickte schwermüthig auf den kleinen Italiener hinab und antwortete: „Sie können von Glück sagen, daß Sie die ganze Sache nichts angeht.“ – Und darauf erzählte er bereitwillig die Geschichte, die seit vergangenem Dienstag all’ seine Gedanken beschäftigte. Prati hörte aufmerksam zu, hie und da die Stirn runzelnd, den Kopf schüttelnd oder die Achseln zuckend, wie das so südländische Art ist.

„Sind Sie ganz sicher,“ fragte er endlich vorsichtig, „daß der Comprador das Gold in den Schrank gestellt hat? Sie waren in Eile, so sagen Sie selbst, Sie haben die Kassenthür schnell zugeworfen. Die Chinesen sind geschickte Leute, und ich traue keinem von ihnen über den Weg.“

„Der Comprador ist seit zehn Jahren im Hause,“ antwortete Büchner verdrießlich, „und wenn er nicht ein Taschenspieler allerersten Ranges ist, so konnte er das Geld unmöglich sozusagen unter meinen Augen verschwinden lassen. Ich habe der Kasse nicht eine Viertelminute den Rücken gekehrt; ich hatte nur ein Formular auszufüllen, zehn Worte zu schreiben.“

„Wie Sie meinen,“ sagte Prati, „Sie haben vielleicht Recht. Aber wenn Sie soviel mit Chinesen zu thun hätten wie ich, so würden Sie meinen Argwohn nicht unbegründet finden.“

Büchner begnügte sich, darauf mit den Achseln zu zucken und Prati trat wieder in das Nebenzimmer zurück, wo er noch einige Worte mit den anderen Angestellten wechselte und sich sodann auf sein Zimmer begab.

Etwa eine halbe Stunde später ließ sich Frau Onslow bei Herrn Rawlston anmelden. Herr Wallice, der erste Buchhalter, ging hinaus, um der Dame höflich zu sagen, Herr Rawlston sei augenblicklich nicht im Hause. Frau Onslow erklärte darauf, sie wolle ihn erwarten, und wurde von Herrn Wallice in das Empfangszimmer des Hauses geführt, wo sie ihre große knochige Gestalt mit einem tiefen Seufzer auf einen bequemen Sessel niederließ.

Die genannte Dame, die Frau eines angesehenen amerikanischen Kaufmanns, war in der Fremdenniederlassung wegen ihrer Wohlthätigkeit und Herzensgüte beliebt und wegen ihres seltenen Rednertalents gefürchtet. Wer immer mit ihr zusammentraf, mußte sich darauf gefaßt machen, eine längere Abhandlung aus ihrem Munde über diese oder jene Frage, die Moral oder das allgemeine Wohl betreffend, zu vernehmen. Hatte sie nun aber gar Veranlassung, sich mit Jemand über einen von ihm begangenen Fehler oder etwas, was sie für einen solchen hielt, auszusprechen, so war sie sehr ermüdend, und ihre Opfer verschwanden gewöhnlich gänzlich zerknirscht aus ihrer Nähe und gingen ihr sodann während der nächsten Wochen mit ängstlicher Scheu auf weite Entfernung aus dem Wege. Aber das kümmerte Frau Onslow nicht. Sie betrachtete es als eine Pflicht, alle Sünder, mit denen sie zusammentraf, zu belehren und zu bekehren, und ob dies den Unglücklichen gefiel oder nicht, war ihr vollkommen gleichgültig. – Nachdem sie etwa fünf Minuten ungeduldig gewartet hatte, klingelte sie und beauftragte den eintretenden Diener, einige Boten auszusenden, um Herrn Rawlston zu suchen und diesem zu melden, Frau Onslow warte in seiner Wohnung, sie habe ihm eine wichtige Mittheilung zu machen. Der gut geschulte Diener that, wie ihm geheißen, und einer der Ausgesandten hatte das Glück, seinen Herrn in der Nähe des Hauses anzutreffen und Frau Onslow’s Bestellung schnell ausrichten zu können. Rawlston begab sich darauf eiligen Schrittes zu ihr, denn er vermuthete, sie werde ihm Nachrichten von seiner Schwester bringen.




2.

Als James Rawlston in den Salon trat, nickte ihm Frau Onslow finster zu und bedeutete ihm durch eine stumme Gebärde, auf einem Sessel ihr gegenüber Platz zu nehmen.

Rawlston wußte genau, was ihm bevorstand, und ließ sich ergeben auf den ihm angewiesenen Platz nieder. Darauf trat eine Pause ein, während deren Frau Onslow ihren Wirth unter majestätischem Heben und Senken des belockten Hauptes vom Kopf bis zu den Füßen und von den Füßen bis zum Scheitel musterte. Rawlston ertrug diese Untersuchung mit anscheinender Ruhe, öffnete und schloß langsam die Augen, zerrte an seinem Schnurrbart und begann endlich, um seine Unbefangenheit ganz klar zu machen, mit den Fingern beider Hände einen Marsch auf den Lehnen seines Sessels zu trommeln.

„Verhalten Sie sich ruhig!“ brach Frau Onslow zornig hervor.

Rawlston sah seinen Besuch mit einem Blick von unten an. Er hatte einen stark ausgeprägten Sinn für Humor, und Frau Onslow fing an, ihn trotz seiner üblen Laune zu erheitern. Unwillkürlich zuckte es ihm um Augen und Mund, und er war sich bewußt, zu lächeln.

„Lachen Sie nicht, höhnen Sie nicht, Sie … Mann!“

Das Onslow’sche Wörterbuch war reichlich versehen mit wohltönenden, salbungsvollen Worten, aber zur Aeußerung ihres Unwillens fehlten der Frau kräftige Ausdrücke. – „Mann“ war Alles, was sie zur Niederschmetterung ihres Gegners finden konnte. Das Wort verfehlte die beabsichtigte Wirkung. Rawlston’s Mund wurde im Gegentheil breiter, die Augen kleiner, und bald konnte kein Zweifel mehr darüber obwalten, daß er lachte – daß er es wagte, Frau Onslow auszulachen. Das war der guten Dame, ihres Wissens wenigstens, noch niemals vorgekommen. Sie wurde dunkelroth.

„Es giebt hier nichts zu lachen, Herr! Es handelt sich um das Glück eines edlen Wesens, welches das Unglück hat, Ihre Schwester zu sein! Lachen Sie nicht! Hören Sie! Schämen sollten Sie sich!“

Das wirkte ganz anders. Rawlston’s Gesicht wurde sofort ernst und er sagte verdrießlich:

„Meine liebe Frau Onslow, es ist nun das dritte oder vierte Mal, daß ich heute hören muß, ich sollte mich schämen. Das gefällt mir nicht! Mit aller Achtung, die ich einer Dame

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 454. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_454.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)