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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

eingeschüchterten Hundes bittend und traurig an mir vorbei in die Welt hinaussahen, hatten einen Ausdruck, der mich mitleidig stimmte. – „Nehmen Sie Platz,“ sagte ich.

Er setzte sich ganz langsam, wobei er sich mit der Hand auf den Sitz stützte und die Lippen eigenthümlich zusammenkniff. „Was steht zu Befehl?“ wiederholte ich.

„Können Sie mich mit nach Shanghai nehmen?“ fragte er.

„Man könnte schon Unterkommen für Sie finden, aber eine Kajüte habe ich nicht für Sie. – Wir sind nicht auf Passagiere eingerichtet.“

„Ich mache keine Ansprüche. Geben Sie mir irgend einen Platz, wo ich unterkriechen kann. Mehr brauche ich nicht.“

„Sehr wohl,“ sagte ich, „dann können Sie heute Abend oder morgen früh an Bord kommen. Wir segeln mit der Ebbe, um 11 Uhr. – Ich berechne für die Ueberfahrt vierzig Dollars, die Sie gefälligst bei meinen Agenten, Millner & Co., einzahlen wollen.“

„Das ist nicht theuer,“ meinte er, „aber …“ und er stockte.

Ich sah alsbald, was kommen würde. – „Wie ist Ihr werther Name?“ fragte ich. „Ich werde mit Herrn Millner sprechen. Wenn der nichts dagegen einwendet, so können Sie meinetwegen freie Passage haben.“

Er wurde dunkelroth, blickte zur Erde und antwortete verlegen: „Ach nein, Kapitän, Sie irren sich. Ich möchte Sie nur bitten, mir bis Shanghai Kredit zu geben. Ich hatte meine Ausgaben falsch berechnet und besitze hier nicht genug baares Geld, um die Ueberfahrt zu bezahlen. Gleich nach meiner Ankunft in Shanghai werde ich Alles berichtigen.“ Und dabei schlug er die Augen in die Höhe und sah mich zum ersten Male gerade an: jammervoll und elend, aber mit einem Blicke, der mir volles Vertrauen zu dem Manne einflößte. – Ich war in China und Japan niemals mit einem anständigen Menschen zusammengetroffen, der sich wegen vierzig Dollars in Verlegenheit befunden hätte; aber weßhalb sollte das in Yokohama nicht gerade so gut vorkommen, wie in London und Liverpool? – Und dann: es gefiel mir, dem Mann einen kleinen Dienst zu erweisen; sein Blick hatte es mir angethan, ein Blick so traurig und nachdenklich, wie ich ihn nie gesehen hatte.

„Nun gut,“ sagte ich, „wir werden uns schon verständigen, Herr … wie nannten Sie sich?“

„Büchner, Georg Büchner ist mein Name,“ antwortete er so leise, daß ich ihn kaum verstehen konnte. Darauf wartete er eine kleine Weile, und dann setzte er augenscheinlich erleichtert hinzu: „Gestatten Sie, daß ich heute Abend an Bord komme?“

„Nach Ihrem Belieben, Herr Büchner,“ erwiederte ich und reichte ihm die Hand, die er aber kaum berührte.

„Vielen Dank, Kapitän“ sagte er und entfernte sich langsam und schwerfällig, wie er gekommen war.

„Ein kurioser Passagier!“ sagte ich mir, und da ich während des Gesprächs das Frühstück beendet hatte, ließ ich mein Boot fertig machen und fuhr ans Land, um mit Millner & Co. eine letzte Rücksprache zu nehmen. Nachdem das Geschäftliche in Ordnung gebracht war, fragte ich James Millner, ob er einen Georg Büchner kenne.

„Den langen Holländer?“

„Lang genug ist er, um den Namen zu verdienen.“

„Ja, den kenne ich … was ist mit ihm los?“

„Das möchte ich eben wissen.“

„Das ist eine endlose Geschichte. Mich wundert nur, daß Sie dieselbe nicht kennen. Es ist doch genug davon gesprochen worden.“

„Wann war das?“

„Vor zwei Jahren.“

„Das erklärt, weßhalb ich nichts davon gehört habe. – Vor zwei Jahren war ich in London.“

Richtig! – Nun, Büchner hat vor Gericht gestanden – des Diebstahls angeklagt, aber man konnte ihm nichts beweisen.“

„Halloh!“ sagte ich, „das müssen Sie mir erzählen.“ – Denn der Gedanke, mit Jemand zu fahren, der nur aus Mangel an Beweisen eines von ihm begangenen Diebstahls nicht hatte überführt werden können, war mir doch etwas unbehaglich.

James Millner hatte gerade viel zu thun. Er vertröstete mich auf den Abend, ich speiste bei ihm, und als wir nach dem Essen auf der Veranda saßen und die jungen Leute sich entfernt hatten, kam ich wieder auf die Geschichte zurück. Millner erzählte sie mir mit vielen Einzelheiten, die mir im Gedächtniß geblieben sind, weil ich von dem Tage an den „langen Holländer“ nie mehr ganz aus den Augen verloren habe. Mit der Zeit habe ich denn auch alle Lücken in Millner’s Erzählung ausfüllen können, theils aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen, theils aus den Mittheilungen Anderer über Büchner’s Schicksale. Das Alles hat sich nach und nach in meinem Geiste zu einer einzigen, vollständigen Geschichte verschmolzen, und die will ich Ihnen nun erzählen.


1.

Büchner nahm seit einer Reihe von Jahren die Stellung des Kassirers bei Rawlston & Co. in Shanghai ein. Er stand daselbst in hohem Ansehen, und man sprach davon, er werde Edith Rawlston, die Schwester seines Principals, heirathen und sodann Mitglied des alten und vornehmen Hauses werden, dem er vorläufig noch als erster Angestellter diente.

Edith war ein bildhübsches Mädchen und eine reguläre Flirt (Kokette), die sich damals die Aufgabe gestellt zu haben schien, den jungen Männern von Shanghai im Allgemeinen, ganz besonders aber dem langen Holländer und Herrn Francis Morrisson das Leben möglichst schwer zu machen. Francis Morrisson galt für die beste Partie in Shanghai. Er war ein liebenswürdiger, heiterer junger Mann von gutem Aussehen und vortrefflichen Manieren, dazu war er sehr reich und infolge aller dieser Eigenschaften von Müttern und heirathsfähigen Töchtern stark verwöhnt. Daß er in Edith verliebt war, konnte Jedermann sehen, der mit den Beiden zusammentraf, und wenn er trotzdem noch nicht um die Hand des jungen Mädchens angehalten hatte, so war dies nur dadurch zu erklären, daß Edith ihm bisher wenig oder gar keine Ermuthigung gegeben hatte. – Dagegen beschäftigte sie sich viel mit dem langen Holländer.

Hübschen Mädchen wird es leicht gemacht, witzig und geistreich zu sein. Wenn eine Häßliche sich so benommen hätte, wie Edith es häufig that, so würde man ihr den Rücken gekehrt haben; aber Fräulein Rawlston war Aller Liebling und galt für witzig und klug. Der schwerfällige Büchner hatte oftmals von ihren Launen und Unarten zu leiden; er ertrug jedoch Alles, was von ihr kam, mit unendlicher Langmuth, so daß sie schließlich die Geduld verlor und ihn eines Abends gewissermaßen nöthigte, ihr endlich in Worten die Liebeserklärung zu machen, die sie seit Monaten in seinen Augen gelesen hatte. Nachdem er gesprochen, wie sie es erwartet, hatte sie ihm herzhaft die Hand gedrückt und gesagt: „Das wäre nun in Ordnung, Georg, von heute ab sollen Sie nur noch Freude an mir haben!“

Dies hatte sich eines Abends zu später Stunde, sagen wir an einem Dienstage, ereignet. Als der lange Holländer sich am nächsten Morgen bei James Rawlston anmelden ließ, erwartete dieser, Büchner werde um die Hand seiner Schwester bei ihm anhalten, denn Edith, die von ihrem Bruder verzogen wurde und in ihm einen treuen Verbündeten erblickte, war bereits zu früher Stunde in seinem Zimmer gewesen, um ihm zu sagen, sie habe sich mit Georg Büchner verlobt. Rawlston ging dem Eintretenden mit freundlichem Gesichte und ausgestreckten Händen entgegen, denn er wollte dem schüchternen Menschen eine förmliche Erklärung erleichkern, aber zwei Schritt vor ihm blieb er stehen. „Was ist Ihnen zugestoßen, Mann? – Wie sehen Sie aus? – Was giebt’s?“

„Ein Unglück, Herr Rawlston.“

„Nun, was? Schnell!“

„Wir sind heute Nacht bestohlen worden.“

„Was ist gestohlen worden?“

„Die zehntausend Dollars, die gestern Abend von Ki-tschong eingezahlt worden sind.“

Niemand verliert gern zehntausend Dollars, auch wenn er das Zehnfache entbehren könnte, und der Amerikaner machte bei der Mittheilung des Verlustes nicht gerade ein vergnügtes Gesicht. Er stülpte sich aber, ohne ein Wort zu sagen, den Hut auf den Kopf und folgte Büchner zur Kasse, um den Schaden bei Lichte zu besehen.

Das feine Schloß des eisernen Schrankes, in dem das Geld aufbewahrt gewesen war, zeigte keine Spur von gewaltsamer Oeffnung. Die Thüren und Fenster waren unversehrt. Der herbeigerufene Hausdiener, dessen Pflicht es war, sie am Morgen zu öffnen und am Abend zu schließen, hatte nichts Außergewöhnliches bemerkt. James Rawlston drehte nachdenklich die Spitzen seines langen Schnurrbartes und ließ sich von Büchner noch einmal zusammenhängend erzählen, was mit dem verschwundenen Gelde in Verbindung stand.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 438. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_438.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)