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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

No. 27.   1887.
      Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.



Der lange Holländer.

Novelle von Rudolph Lindau.

In seinen guten Tagen habe ich Georg Büchner nicht gekannt; die lagen in den Jahren 1856 bis 1860. Damals war er, wie ich später erfahren habe, ein sehr beliebter Mann in Shanghai, wo er unter dem Namen „Der lange Holländer“ ging. Aber er war kein richtiger Holländer. Er war ein Deutscher – aus Bremen, wenn ich nicht irre. – Das thut übrigens nichts zur Sache. – Ich machte seine Bekanntschaft im Jahre 1862 in Japan. Ich führte damals als Kapitän die „Aurora Belisle“ und hatte Aussicht, längere Zeit auf der Linie Yokohama-Shanghai-Hongkong zu bleiben. Am Tage vor meiner Abreise von Yokohama, als ich beim Frühstück saß, wurde mir vom Steuermann gemeldet, es sei ein Mann an Bord gekommen, der mich zu sprechen wünsche.

„Was für ein Mann?“

„Sieht aus wie ein Zwischendeckpassagier.“

„Da wird er wenig Platz finden. – Nun, lassen Sie ihn nur herunterkommen.“ Bald darauf hörte ich einen schweren, bedächtigen Tritt, und dann kam ein Mann herein, der sich tief bücken mußte, um durch die Kajütenthür treten zu können. An der Schwelle blieb er stehen und sagte höflich. „Guten Morgen, Kapitän.“

„Guten Morgen, mein Herr,“ antwortete ich. „Was steht zu Ihren Diensten?“

Es war nämlich etwas in seiner Gesichtsbildung, Stimme und Haltung, was mich nöthigte, ihn wie einen Gentleman zu behandeln. Sein Alter war schwer zu bestimmen, konnte aber nicht mehr als etwa fünfunddreißig Jahre betragen. Er war auffallend groß und schwer, trug kurzgeschnittenes, blondes Haar und einen ebenfalls kurzgeschnittenen, hellen Vollbart. Seine Gesichtsfarbe war gebräunt. Dazu hatte er eine ganz weiße Stirn. Daß der Mann trank, glaubte ich beim ersten Blick zu erkennen an dem finstern Aussehen und an dem schweren Zug um den Mund, der Gewohnheitstrinkern eigen ist. Seine Kleider saßen gut, waren aber etwas abgetragen und zu warm für die heiße Jahreszeit: die Kleider eines heruntergekommenen Mannes. Ueberhaupt war sein ganzes Wesen das eines Menschen, der bessere Tage gesehen hat; und seine Augen, die wie die eines

Hundstage.0 Nach dem Oelgemälde von S. Eggert.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 437. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_437.jpg&oldid=- (Version vom 16.7.2022)