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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Es war noch Leben auf der Straße. Hier und da rollte ein Wägen über das Pflaster, die Klingel einer Ladenthür und das Plaudern und Kichern der Dienstmädchen ließ sich vernehmen. Da schallte von ferne ein Gesang. Nun unterschied Walther deutlich das bekannte Lied der Reservisten.

„Drum, Brüder, stoßt die Gläser an,
Es lebe der Reservemann!“

Doch nur einzelne mühsam gelallte Worte, vom lachenden Halloh anderer Stimmen unterbrochen.

Die Reserven sind heute entlassen worden; irgend ein betrunkener Reservist, der sich hierher verschlagen. Walther war eben ans Fenster getreten, um dieses zu schließen, da stutzte er. War das nicht Baptist’s Stimme?

Jetzt hörte er deutlich den Lothringer den Anfang der französischen Marseillaise singen.

Parlez-vous? Voulez-vous? Nix versteh!“ neckten andere Stimmen, die Mägde juchzten. Und das wüste Hin und Her einer torkelnden Gestalt auf dem Trottoir.

Ein flüchtiges Runzeln des Unmuths flog über Walther’s Stirn. Auch Baptist ist heute zu den Reserven entlassen worden. Von morgen ab setzt er seinen Dienst in Gamlingen’s Hause als Privatdiener fort. Nun, man muß heute ein Auge zudrücken – mag ihm etwas Menschliches passirt sein! Aber die Marseillaise da? Das paßt doch nicht für die königliche Uniform! Er will ihm das morgen verweisen; er ist ja nahe am Hafen, für heute soll es gut sein.

Nochmals dieselbe Melodie, aber von einer andern Stimme gesungen. Gott, wo hat er die schon gehört? Rauh, in den oberen Tönen absichtlich umschlagend, um eine komische Wirkung zu erzielen – Dicks? Wie kommt der Bengel …?

Ja, seine Stimme! Und die Marseillaise! – aber nicht der französische Text diesmal – deutlich hört Walther die deutschen Worte. Sofort erinnert er sich – er hat die Worte in diesen Tagen zufällig irgendwo gelesen. Halt – ist das nicht jene von der Polizei verbotene und verfolgte Arbeitermarseillaise? Die Arbeiterbataillone, die zum Sturm gegen die Tyrannei des Kapitals heranmarschiren. Ein vereinzeltes ironisches Händeklatschen läßt sich vernehmen – in diesem Viertel giebt es kein Publikum für dergleichen.

Was fällt dem Bengel denn ein? Wie kommt er dazu, hier auf der Straße das verpönte Lied zu singen? Und was haben die beiden Stimmen mit einander gemein?

Er beugte sich zum Fenster hinaus.

Das gelbe Licht einer Laterne beleuchtete die von grinsendem Lachen entstellten Gesichter eines Menschenhaufens. Und inmitten des Haufens die Beiden. Sein Diener Baptist, in der Reserve-Uniform, die Mütze schief auf dem Ohr, angelehnt mit der ganzen Wucht seiner feisten Gestalt gegen Jemand, dessen Nacken er zärtlich umklammert hielt. Und dieser Jemand?

Genug! Ein Blick nur und genug! Ein Gamlingen Arm in Arm mit dem Diener eines Gamlingen über die Straße ziehend und zum Gaudium des Publikums die Marseillaise singend …

Eine Minute darauf hielt Walther die Reitpeitsche in der Hand.

Doch nicht hinab? Ihn zu züchtigen? Eine Ungeheuerlichkeit gegen die andere!

Mit einem Fluch warf er die Peitsche auf den Tisch. Nein, nicht das! Sie werden jedenfalls das Haus aufsuchen. Er wird betrunken sein wie Baptist. Einen Betrunkenen züchtigt man doch nicht.

Jetzt schlug die schwere Hausthür dröhnend ein unter einer höhnisch jubelnden Lache der Menge. Sie kennen den Amerikaner; die originelle Erscheinung wußte selbst die diskrete Neugier dieser Straße zu reizen. Sie kennen seinen Namen – welch’ ein gewaltig amüsantes Schauspiel, zu sehen, wie er ihn besudelt!

Jetzt kommt man die Treppe heraus, als werde irgend ein schwieriges Möbel heraufgeschafft. Dumpf prallt es gegen die Korridorthür; die Klingel wird gerissen, daß es wie ein Alarm durch das Haus hallt.

Walther ging, mit aller Ruhe bewaffnet, deren er habhaft werden konnte, selbst hin, um zu öffnen. Dicks stand vor ihm und grinste ihn mit seinen Zähnen vergnügt und freundlich an. Mit dem einen Arm hatte er den schwankenden Baptist um den Leib gefaßt, in der andern hielt er etwas Weißes.

Was ist das? Das Schild von seiner Korridorthür – was soll das in Dicks’ Hand?

Dicks hielt es ihm hin. „Er hat verdammt gezogen, als wie an einer Kirchenglocke. (Dicks hatte früher selbst für Lohn Kirchenglocken geläutet.) Riß gleich das Dings mit ab. Da ist’s! Dogdown! Willst Du still halten, Junge!“

Baptist machte eine vergebliche Anstrengung, sich gerade auf die Beine zu stellen. „… ’err ’Aup … ’err ’Aup …“ kam es kläglich aus seinem Munde.

Zehn Minuten darauf stand Dicks in Walther’s Zimmer. Sie hatten den betrunkenen Baptist auf sein Lager geschafft. Dicks war durchaus nicht betrunken, er hatte sich öfter gerühmt, daß kein Getränk der Welt ihn unter den Tisch brächte. Man konnte sehr wohl ein Wort mit ihm reden.

Walther hatte sich auf der Kante des Stuhles an seinem Schreibtisch niedergelassen und anscheinend ganz ruhig, ein beschriebenes Blatt mit gerunzelter Stirn prüfend, sagte er:

„Was hattest Du eigentlich mit dem Burschen? Du hast ihn in der Gosse aufgehoben wie?“

Dicks rekelte sich auf der Lehne eines Sessels.

„In der Gosse? Hoho!“ rief er „Haben einfach eins links herum geschmettert! Ein verteixelt smarter Bursche! Aber der Anblick eines Flaschenhalses schmeißt ihn um!“

„Was?! Gekneipt mit Baptist?“

Dicks reckte sich über den Sitz des Sessels, die Beine in der Luft und langte sich eine Cigarre aus der dastehenden Schale. Und die Spitze abbeißend, rief er mit höhnischem Grinsen:

„Na, was sonst! Er ist ein Gentleman so gut wie wir Alle!“

Gamlingen schoß empor.

„Er ist ein Diener, Du hast die Ehre, ein Gamlingen zu sein – Respekt vor dem Namen oder …“

„Oho!“ Dicks erhob sich vor der flammenden Miene des Hauptmanns. „Was für ein Recht hast Du denn?“ rief er in zitternder Wuth. Es war der Moment, mit seinem Peiniger abzurechnen. „Karambal, ich kann mit meinem Namen machen, was ich will!“

„Das wirst Du nicht!“ donnerte Gamlingen.

Da gewahrte Dicks das abgerissene Namensschild, das vorhin auf den Tisch gelegt worden war. Sofort griff er danach.

„Woher hast Du das eigentlich, he?“ rief er, die Porcellanplatte triumphirend in die Höhe haltend.

„Was soll das? Was geht Dich das Schild an?“

„Ich will wissen, wo Du es her hast. Ich habe mehr Recht als Du zu fragen!“

„Leg’ sofort das Ding hin!“ brüllte Gamlingen. Und er faßte nach der Reitpeitsche auf dem Tisch.

Dicks wich nach der Thür zurück.

„Soll ich Dir sagen, wo Du es her hast? – Gestohlen hast Du es! – gestohlen!“

„Ah!“

Ein paar Augenblicke schien das Entsetzen dieses Wortes Gamlingen zu lähmen. Dann stürzte er mit erhobener Reitpeitsche auf den Beleidiger.

Dicks hatte die Thür aufgerissen. Da fühlte jener den erhobenen Arm durch zwei Hände umklammert. „Walther – um Gotteswillen, Walther!“ flehte Melitta’s Stimme. „Was machst Du? Was ist?“

Sie stand vor ihm im hellen Nachtgewand, blaß und zitternd, mit angststieren Augen, die entblößten weißen Arme, von denen in der heftigen Bewegung die weiten Aermel sich gelöst, mit den flachen Händen zur Abwehr nach ihm ausgestreckt.

Dicks war fort. Man hörte ihn draußen die Thür mit einer seiner Verwünschungen zuschlagen.

„Gestohlen!“ murmelte Walther dumpf, mit einem verzweifelten Zucken um die Mundwinkel. „Gestohlen …“

Abermals packte ihn die Wuth und er schleuderte das Namensschild auf die Diele, daß es in Stücke zerschellte. Thränen des Zornes stürzten in seinen Bart hinab, in seiner Brust kochte es.

„Walther – lieber, lieber Walther …“

Wie aus der Ferne hörte er die Stimme seines Weibes.

Als er nach einer Pause den Kopf hob, sah er, wie sie sich gebückt hatte, um die Scherben des Schildes aufzuheben.

„Liegen lassen!“ schrie er heiser.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 419. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_419.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)