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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Die Einsame.
Erzählung von S. Kyn.
(Schluß.)


Die Erzählung der Greisin hatte Kordula tief ergriffen, aber ihre Seele war noch zu voll von eigenen Empfindungen, um lange an dem Eindruck zu haften. Die Tante war doch einmal glücklich, dachte Kordula; sie hat doch einmal von den goldenen Früchten gekostet, zu denen ich bisher nur hungernd und dürstend aufschauen durfte!

Schon der nächste Tag brachte den Besuch Melly’s, die mit heimlichem Blinzeln der Freundin allerlei Schmeichelhaftes zuraunte, ohne der alten Dame irgend etwas zu verrathen. Als sie dann, beim Abschied von Kordula geleitet, schon an der Treppe stand, sprach sie noch einmal warme Worte zu Kordula’s Lob und konnte nicht oft genug wiederholen, wie diese im Fluge Aller Herzen gewonnen habe. „Und nun,“ fuhr sie fort, „wird doch Deine Raupenhaut, das ewige schwarzseidne Fähnchen, in die tiefste Rumpelkammer verbannt und Du erscheinst niemals wieder so dürftig und jämmerlich wie bisher. Wer so pompöse Brillanten vererbte, speiste Dich nicht mit ein paar Thalern ab. O, wie mich das freut!“ sprudelte sie weiter, „daß nun endlich das Glück bei Euch Einzug hält! Du hast wirklich riesige Eroberungen gemacht! Die allergrößte jedoch bei Doktor Kersten,“ flüsterte sie geheimnißvoll mit vielsagendem Lächeln, „ich ertappte ihn mehr als einmal dabei, wie er aus irgend einem verborgenen Winkel Dich nicht aus den Augen ließ, und ich habe ihm das auf den Kopf zu gesagt. Weißt Du, was er mir antwortete? ‚Allerdings, ein zu seltsamer plötzlicher Wechsel im Wesen der jungen Dame, um mich nicht zu interessiren!‘ – Die Männer kleiden ihre Bewunderung doch recht oft in ein eigenthümliches Mäntelchen, nicht wahr?“ Dann sprang sie windschnell die Treppe hinab, um unten angelangt noch ein paar Kußhände hinauf zu werfen.

Kordula lehnte schweigend und betroffen am Geländer. Noch hatte sie nicht an die Folgen ihres gestrigen Auftretens gedacht; erst Melly mußte sie daran erinnern, und tief bestürzt kehrte sie zur Arbeit zurück. Dennoch fand sie die Kraft, der Tante gegenüber ihr Inneres völlig zu verhüllen, sie konnte auch auf deren Unterhaltung eingehen, heute sogar besonders freundlich und liebevoll. Doch als sie zur Ruhe gingen, begann ihre Gedankenarbeit. Was thun? Alles Grübeln, alles Zurechtlegen der Verhältnisse kam immer wieder auf den einen Punkt zurück: sie mußte sich die Mittel verschaffen, ihren Vorspiegelungen gemäß auftreten zu können. Aber woher? Sie besaß wohl ein paar hundert Thaler, war auch mündig – aber die Tante gab diesen Nothpfennig nimmer freiwillig her. Und dennoch mußte sie eines der Werthpapiere zu erlangen suchen. Die Papiere lagen im Sekretär der Tante, nur wenn die Koupons abgeschnitten wurden, kamen sie in ihre Hand, und dieser Termin mußte benutzt werden!

Der Gedanke wurde in den kommenden Tagen weiter ausgesponnen und seine Verwirklichung fest beschlossen. Ohne nach rechts oder links zu blicken, strebte sie nur dem einen Ziele nach, und als die günstige Stunde kam, legte sie mit kühler Besonnenheit ein leeres Blatt von gleichem Format und derselben Stärke zwischen die Scheine. Vor der Hand reichte die so gewonnene Summe, und keine Spur von Reue oder Vorwürfen stellte sich ein. Aber ihr Wesen veränderte sich seltsam, ein gewissermaßen lauerndes, gespanntes Spähen blitzte aus ihren Augen, ein Mißtrauen, das sie zwang, überall zu sein, Worte jeder halbwegs leise geführten Unterhaltung aufzusaugen, eine tiefe Unruhe, die ihrer ganzen Person ihren Stempel aufdrückte.

Das Geld floß ihr jedoch unerwartet schnell zwischen den Fingern davon. Gerade weil sie einen wirklich guten Geschmack entwickelte, fühlte sie, daß ihre Toilette von Grund auf erneuert werden mußte, sie fürchtete es fast, eine Lücke sehen zu lassen, und so kam es, daß die Summe ausgegeben war, ehe sie es gedacht. Doch der Rausch ihres Innern hatte sie derart überwältigt, daß sie nicht einen Augenblick zögerte, neue Papiere einzuwechseln – wen ging es am Ende an, wenn sie dereinst betteln gehen mußte?

Einmal allerdings erhielt das ganze Gebäude von Lug und Trug einen empfindlichen Stoß. Es war in einer kleinen Gesellschaft in dem stets offenen Hause Wolferdorff’s. Kordula konnte des Abends nicht froh werden, sie fühlte sich unablässig verfolgt von zwei Augen, die schon seit längerer Zeit immer auf ihr ruhten, wie Melly meinte in grenzenloser Verliebtheit, aber, wie Kordula heute nicht zum ersten Male fühlte in gespannter, unablässiger Beobachtung. Was hatte denn nur dieser Doktor Kersten, um sie mit solchem Inquisitorblick zu verfolgen? Was konnte er von ihr denken oder argwöhnen? Sie fing an, ihm eben so beflissen aus dem Wege zu gehen, wie sie früher seine lebhafte und angenehme Unterhaltung gesucht hatte.

Eben hatte sie sich in den nur durch eine rosige Ampel erhellten Erker zurückgezogen, umduftet von einer Fülle blühender Frühlingsblumen, als plötzlich der Doktor in der schmalen Thüröffnung sichtbar wurde. Kordula fuhr unwillkürlich auf, um den einsamen Platz zu verlassen, als ein in ganz besonderem Ton gesprochenes: „Sie fürchten sich vor mir, mein Fräulein, warum?“ sie an die Stelle bannte.

Es kostete Mühe, seinen Blick auszuhalten. „Was für einen Grund sollte ich haben, Sie zu fürchten, Herr Doktor?“ erwiederte sie so kühl wie möglich, aber ihr Herz schlug gewaltig. Und nun rollte er auch noch einen Fauteuil heran und ließ sich in ihrer nächsten Nähe nieder!

„Darum eben, weil ich keinen Grund weiß, mein Fräulein, beängstigt mich als Arzt, als Seelenarzt Ihr scheues Ausweichen. Ich habe Sie eigens hier aufgesucht, um ernsthaft und ungestört mit Ihnen darüber zu sprechen.“

Kordula lachte laut und schneidend auf „Suchen Sie vielleicht in mir die interessanten Anfänge irgend einer Wahnsinnsart? Am Ende haben Sie schon einen ausgebildeten Verfolgungswahn in mir entdeckt?“

Ein flüchtiges Lächeln, das sie im Innersten empörte, umspielte seinen Mund, aber der forschende Blick wich nicht einen Augenblick von ihr. „Sie ereifern sich, mein Fräulein, und abermals frage ich: warum?“

Kordula öffnete und schloß den Fächer in nervöser Bewegung, und ihre Blicke suchten umher, ob denn Niemand komme, dieses peinvolle tête à tête zu unterbrechen. Doch Alles blieb todtenstill; sie schien dem gefürchteten Inquisitor rettungslos verfallen.

Als sie ihm noch immer die Antwort schuldig blieb, beugte er sich noch näher zu ihr und blickte ihr mit fast beleidigender Schärfe ins Gesicht. „Spotten Sie nicht! Die Menschen wissen es nur zu oft nicht, wenn sie körperlich oder seelisch erkrankt sind. Wer hielte sich zum Beispiel für leidend, der Wünsche zu erfüllen strebt, die nur außerhalb seiner Verhältnisse Befriedigung finden könnten? Da schlagen Sie nun wieder die Augen nieder,“ unterbrach er sich in einem gezwungen scherzenden Ton, „rücken unruhig hin und her, alles Zeichen, daß Sie meiner Gegenwart gern entfliehen möchten. Fürchten Sie am Ende gar in mir einen Dieb oder Mörder – eine im Leben reicher Leute oft erscheinende Sorge?“

Kordula lachte gequält auf. „Ich wünschte, ich hätte mehr Grund, Räuber zu fürchten!“

Sie barg sich in den Lehnstuhl zurück und wandte den Kopf zur Seite, so daß ihr Profil sich von dem dunkeln Pflanzenhintergrund fein und scharf abhob. Doktor Kersten betrachtete die schlanke Gestalt und vergaß darüber für einige Sekunden fast den Zweck, der ihn hergeführt. Sie sah reizend aus in diesem Augenblick, das mattweiße Kleid bildete einen so eigenartigen Gegensatz zu dem dunkeln krausen Haar und den tief umschatteten Augen. Die Züge, welche in heller Beleuchtnug leicht etwas Scharfes bekamen, waren hier im Halbschatten so lieblich gedämpft; nur die rothen Lippen schimmerten aus dem blassen Gesicht heraus.

Der junge Arzt entriß sich aber sofort wieder diesem stummen Schauen, er wollte die angefangene Operation nicht aufgeben.

„Sie scheinen schnell den Werth des Goldes begriffen zu haben, Fräulein Adrian,“ sagte er hart. „In der That, eine gewaltige Macht. Wie sagt Shakespeare? ‚Durch zerlumpte Kleider sieht man das kleinste Laster; lange Pelzmäntel und Röcke verbergen Alles!‘ und weiter: ‚Beschlage die Sünde mit Gold und

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 377. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_377.jpg&oldid=- (Version vom 5.6.2023)