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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Alles horchte auf. Was soll das?

Nur Walther verstand es. Stachvogel, der jetzige Inhaber der n-ten Division, war doch eine kurze Zeit lang der Adjutant des Oberstlieutenants gewesen, ein Adjutant, auf den man sich in allem Schriftlichen verlassen konnte, wie der alte Herr erzählte. Also handelt es sich nach dem Fieberwahn des Sterbenden um einen schwierigen Bericht, welchen ihm Stachvogel soeben vorgetragen.

„Papa, lieber Papa!“ flehte Olga.

„Lieber, guter Freund, was ist Ihnen? – Hören Sie denn nicht?“ jammerte Frau Belzig.

„O, er weiß sehr wohl, um was es sich handelt!“ nickte er.

Da wird ihm auf einer Unterlage ein Stück Papier zugeschoben – Jemand drückt ihm eine Feder in die Hand, und ein anderer Jemand stützt ihm den Kopf. Eine kurze Weile starrt er die Schrift auf dem Papier an. Wieder nickt er: Aha, er soll das unterschreiben! Die Feder entfällt ihm – abermals wird sie ihm schreibrecht in die Finger gedrückt. Da fliegt ein Lächeln über sein Antlitz – ein bedauerndes, zweifelndes Lächeln: das da soll er unterschreiben? Nein, das kann und darf er nicht! – Und langsam, langsam wiegt er ein paarmal verneinend den Kopf hin und her. Dann mit einer Anstrengung wendet er sich nach der Stube hin an den Jemand, den er vorhin gesucht und der wohl jetzt da sein muß.

„Ze … ze … ze … aber die Brigade …“ stammelt er, während auf seinem Antlitz das Lächeln einem Ausdruck bedenklicher Wichtigkeit weicht, „aber was wird die Brigade sagen? … Herr von Stachvogel, was wird die Brigade …“

Herrgott! was will er? Was hat er mit der Brigade, jetzt in dieser Stunde?

Es ist der fällige Bericht an die Brigade. Stachvogel, sein Adjutant, hat wieder einmal einen zu schneidigen Bericht losgelassen, der bei der vorgesetzten Brigade Anstoß erregen wird. Stachvogel ist zu scharf und er, sein Vorgesetzter, der den Bericht mit seiner Unterschrift decken soll, muß die Schneid’ ausbaden. Er zögert noch zu unterschreiben, wie er es „damals“ öfter gethan. Aber Stachvogel läßt nicht nach, mit stummer Beharrlichkeit, die Spur einer feinen Ironie um die Lippen unterdrückend, wartet er immer noch.

Der Oberstlientenant kann nicht anders, er kann den Druck dieser Beharrlichkeit nicht vertragen. Es hilft kein Sträuben – er muß schließlich doch unterschreiben! Stachvogel will es so – wohlan!

Walther war aufgestanden, mit einer abwehrenden Bewegung trat er an das Bett: er ist nicht bei Sinnen – er phantasirt! man darf ihn das wichtige Dokument nicht unterschreiben lassen – jetzt nicht! – Es wäre ein Verbrechen! – hat er mit seinem winkenden „Nein“ nicht deutlich genug gesagt, daß er nicht unterschreiben will?

Der Rechtsanwalt nimmt aus einer runden Lackdose, die offen neben dem Tintenfasse steht, eine sehr geräuschvolle Prise; und das leichte Heben seiner Schultern, mit dem er Walther’s erregten Blick abwehrt, scheint zu sagen: was geht es mich an! Unterschreibt er, so ist es gut – unterschreibt er nicht, so ist es auch gut! Die Form ist die Hauptsache. Bah, es handelt sich ja doch nur um einen Namen – welch ein Wesen Ihr davon macht!

Plötzlich hat der Kranke die Feder fester gefaßt und ein fein kreischender Ton gleitet über das Papier. Sein Name! Da ist er! Er hat unterschrieben! Ganz fest und sicher sieht der Namenszug aus: „Sehen Sie, Herr von Stachvogel, ich hab’ doch Kourage und nehme es dennoch mit der Brigade auf!“

Dann schmiegt sich das Köpfchen wie Schutz suchend in das Kissen und wendet sich langsam mit emporgezogenen Schultern nach der Wand hin – eine duckende Bewegung, als gälte es des Wischers gewärtig zu sein, den die Brigade auf den allzu schneidigen Bericht austheilen wird.

„Nun?!“

Frau Belzig’s Ruf weckte Walther aus dem betäubenden Starren. Da ist das Protokoll, er soll seinen Namen unter den anderen setzen. Warum zögert er?

Nein, es geht nicht! Er darf nicht … sein Gewissen sträubt sich dagegen! Der andere Name ist nicht mit klarem Bewußtsein dort hingesetzt worden. Die Unterschrift gilt nicht! Wir begehen einen Raub an diesem Namen …

Wie ist es dennoch geschehen?

In der Thür zeigte sich das Dunkel einer Gestalt. Walther wähnte zuerst, es sei Schwester Jemina, vor deren grabesstummen Augen er solche Scheu empfand. Dennoch wandte er den Blick dahin – Melitta, seine Braut! Ein kurzes Ah! der Ueberraschung, ja der Erlösung entfuhr ihm. Wieder war die Sonnenhelle da, die sich über die Bahn seiner Karrière breitete, wieder fand er sich geblendet von dieser Helle. „Ihretwegen!“ rief es in ihm. Da nahm er die Feder und mit einem herausfordernden Trotz warf er seinen Namen hin.

Herr von Stachvogel erschien nicht mehr an dem Lager des Sterbenden, und die Brigade ließ ihm drei Tage lang Ruhe. Er litt geduldig und sagte nichts, nicht einmal sein altes, trauliches „Ze … ze … ze …“ kam über seine Lippen. Am Morgen des vierten Tages stellte sich der Wahn nochmals ein. Olga fragte ihn, da er gerade aus einem langen Schlummer erwachte, wie es ginge? Zuerst wollte er ohne Antwort das Köpfchen nach der Wand hindrehen, aber das Frühroth hatte die Spiegelscheibe des Stammbaumes mit einem gewaltigen Purpur übergossen, und er schreckte zurück vor diesen Flammen.

„Die Brigade – was wird die Brigade …“ flüsterte er. Und ein seltsames, kindlich hilfloses Lächeln umspielte seine Lippen, welches die Frage immer und immer zu wiederholen schien und das auch nicht von der Wachsblässe seiner erstarrten Züge wich, als er nun längst allen irdischen Wischern und aller Brigadefurcht enthoben war und mit dem Bericht seines Lebens vor einem höheren Kommando stand.

(Fortsetzung folgt.)




Allerlei Nahrung.
Gastronomisch-naturwissenschaftliche Plaudereien. Von Carl Vogt.
IV.0 Meerfrüchte und kein Ende.

Sie werden doch nicht in eine solche Stachelkugel beißen wollen?“ fragte mich voll Staunens einer meiner Freunde, eine echte Landratte von Maler, der bisher kaum die Tannnenwälder des Jura verlassen hatte, als er mich auf dem Fischmarkte von Marseille mit einer Händlerin feilschen sah, die einen großen Korb voll braungrüner oder violetter Kugeln vor sich hatte, welche über und über mit glänzenden, scharfspitzigen Stacheln besetzt waren. „Ach nein! Sie kaufen die Dinger wohl für Ihr Museum?“

„Durchaus nicht! Hinein beißen will ich nicht, aber verspeisen wollen wir einige! Oeffnen Sie ein Dutzend, wenn’s gefällig!“

Die Händlerin umwickelte die linke Hand mit einem groben Sacktuche, packte einen See-Igel von der Größe eines Borsdorfer Apfels, hieb ihn mit einem kurzen, breiten Messer wagerecht durch, kratzte den Darm, der größtentheils durch seine Schwere abriß, aus dem Obertheile der Schale heraus, spülte diese Hälfte in einem Kübel mit Seewasser ab und überreichte sie mir schmunzelnd mit den Worten:

„Il est à point!"

Auf der Höhlung der Schalenhälfte zeigte sich eine Rosette von fünf traubigen Säckchen, die eine schöne orangegelbe Farbe hatten. Ich schlürfte behaglich die Säckchen, welche sich leicht loslösten, hinab und bot meinem Freunde die zweite Schale an, welche die Händlerin unterdessen in gleicher Weise zugerichtet hatte. Er wandte sich schaudernd ab.

„Versuchen Sie doch! Es ist eine marine Omelette. Die Rosette besteht aus den fünf Eitrauben des See-Igels und diese stecknadelkopfgroßen Eierchen schmecken vorzüglich! Sie werden mir sagen, ob Sie See-Igel oder Austern vorziehen — die Leckermäuler von Marseille sind darüber noch nicht einig!“

Guter Himmel! Meine malende Landratte kannte weder Austern noch Miesmuscheln oder Clovisses, die ebenfalls ausgestellt waren — wie hätte sie eine Vergleichung zwischen diesen verschiedenen Genüssen anstellen können, die ohne Ausnahme für sie „Ekelzeug“ waren?

Der gemeine See-Igel, der Oursin der Franzosen, dem die moderne Wissenschaft einen langathmigen Namen (Strongylocentrotus oder Toxopneustes) gegeben hat, während Linné ihn einfach Echinus lividus nannte, ist aber wirklich ein angenehm erfrischender Bissen zwischen Oktober und Mai, in der Zeit, wo seine Fortpflanzungsorgane vollständig entwickelt sind. Er hält sich am liebsten auf Felsengrund in Höhlen und Klüften des Gesteines auf, im Mittelmeere meist nur wenige Fuß unter dem gewöhnlichen Niveau, in den Meeren mit Ebbe und Fluth sogar über der Grenze der tiefen Ebben, während deren Dauer er sich in Tümpel und Rinnsale unter den Tangen verkriecht, wo man oft Hunderte einsammeln kann. Im Mittelmeere holt man die See-Igel mit einem langen Rohrstengel hervor, der am Ende so gespalten ist, daß er eine drei- bis vierzinkige Zange bildet. Mit einem solchen Rohrstabe bewaffnet, gleiten die Fischer in kleinem Boote auf dem ruhigen Wasser in unmittelbarer Nähe der Küsten und auf den Untiefen umher und spähen nach See-Igeln, Muscheln und Schnecken, die theils als Nahrung, theils als Köder verwendet werden.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 359. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_359.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2023)