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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Sein Name! Was bedeutet sein Name dort? Er hatte zuerst nicht den geringsten Verdacht, daß es das wäre und daß es sich darum handelte!

Plötzlich stand Frau Belzig neben ihm; ihre Augen funkelten aus dem aufgeregten Gesicht.

„Lieber Walther,“ – und sie stockte.

„Nun?“

Sie zuckte zusammen. Wollte er ihr Muth machen mit diesem „Nun,“ ihr die schwierige Aufgabe erleichtern? Er kam ihr entgegen – sie brauchte ja nicht so vorsichtig zu sein!

Und all die geplanten Umwege, auf denen sie an ihr Ziel heranschleichen wollte, kurz abschneidend, ergriff sie seine Hand mit ihren beiden und drückte sie krampfhaft: „Jetzt ist es – jetzt ist es Zeit …“

Als wenn sie voraussetzte, daß Alles vorher mit klaren Worten verabredet worden wäre und daß er nun die Art und Weise der Ausführung eines gemeinsamen Planes durchaus selbstverständlich fände.

Er kehrte langsam das Gesicht von dem Schneegestöber ab nach ihr hin. Wieder ein Stöhnen von drinnen. „Kommen Sie …“ flehte sie mit angstvollen Augen.

Und kein Nein! und kein Widerstand! Er folgte.

Der Freiherr lag an der Längswand des Zimmers gebettet, unter den friedericianischen Bildern und unter dem Prachtstück des Stammbaumes. Eine gewisse poetische Laune hatte es gefügt, daß sich der letzte Gamlingen zu Füßen des stolzen Geschlechterbaumes zur letzten Ruhe streckte.

Das Antlitz des Kranken war fieberisch geröthet; aus den halbgeöffneten Lippen stieß der mühsam arbeitende Athem der leidenden Brust hervor.

Walther hörte, als er neben dem Bette stand und dann durch einen Wink von Frau Belzig veranlaßt wurde, sich auf dem einen Stuhl niederzulassen, während sie auf dem anderen Platz nahm: „Lieber, guter Freund –“ hörte er sie auf den Kranken einreden, „es ist gut! Sie können ganz ruhig sein; es wird Alles geordnet werden! Da ist er – er willigt mit Freuden ein –“

Nichts davon! Wer willigt ein? Wer läßt es geschehen, daß man ihm den alten ehrlichen Namen seiner Väter wegnimmt und einen andern dafür giebt, den er nicht begehrt? Aber kann man denn aufspringen und Nein sagen – jetzt in Gegenwart des Schwerkranken?

Doch Frau Belzig hatte keine Zeit zu verlieren! „Gern willigt er ein!“ rief sie mit schrillem Ton. „Er wird Ihnen ein treuer und braver Sohn sein – nicht wahr?“

Das „nicht wahr?!“ schien auf sie Beide hingewandt. Als wollte sie Beide damit aufwecken, jenen aus seinen Fieberträumen, diesen aus seiner unerklärlichen Betäubung.

Es war immer noch Zeit aufzuspringen und Nein! zu sagen oder irgendwie durch eine Geste, durch ein hinhaltendes Wort auszuweichen. Da sah Walther, wie die matte Hand des Kranken mit dem abgegriffenen Wappenring sich über die Bettdecke in Bewegung setzte und näher und näher tastete, mit ruckweiser Anstrengung, eine andere Hand suchend: die Hand dessen, der damit zu geloben bereit wäre, daß er den Namen des untergehenden Geschlechtes stolz und hoch wie eine Standarte im Kampfe des Lebens tragen würde. Die Lippen des Freiherrn bebten leise, und Walther fühlte sich plötzlich wehrlos diesem Beben, dieser tastenden Hand gegenüber. Noch eine letzte Spur des Widerstandes – in einem Wirbelwind stürmten allerlei Gedanken an ihm vorüber: was man dazu sagen würde, wenn es geschähe? – die ausweichend höflichen, versteckt ironischen Gesichter der Kameraden, sein gutes ängstliches Mütterchen – ob er nicht vor sich selber an Achtung einbüßen würde? Dann aber ein neuer Wirbelwind, der jenem ersten folgte: die kindliche Freude Melitta’s an dem hübschen Spielzeug. Wie glücklich sie der Besitz desselben machen, wie der Name sie kleiden würde! Wie er sie liebt, ach wie er sie liebt! und wie er Alles zu thun bereit sein könnte, ihr diese Liebe zu bezeugen! Und dann die unwiderstehlichen Zauberworte: Karrière und Avancement – es bedurfte nur noch des einen großen, angstvoll flehenden Blickes seiner Schwiegermutter nach der auf der Bettdecke umhertastenden Hand, um die letzte Spur des Zögerns entzwei zu schneiden. Da schob er seine Hand der andern entgegen.

Es war geschehen! Er fühlte die fieberheiße pochende Hand seines Adoptivvaters schwer auf der seinen ruhen.

Am Nachmittag fand die Verhandlung über die Adoption statt, die von Frau Belzig beschleunigt worden war: sie traute dem Tod, dem großen Eskamoteur, und seinen überraschenden Kunstgriffen nicht.

Ein seltsames Testament – und der Anwalt konnte im ersten Augenblick, da er den Gegenstand der Verhandlung erfuhr, eine kurze Verwunderung nicht unterdrücken. Nun, ein guter Name trägt Zinsen wie ein anderes Kapital, und man nimmt auch derlei Schätze nicht gern mit ins Grab. Der Officier dort hat Recht; mit seinem erschreckend einfachen Namen wird er nichts anfangen können – ans Werk also!

Die starke prustende Gestalt des Anwalts, unter der das zimperliche Salonstühlchen beim Niedersitzen ächzte, nahm dicht an dem zum Bette gerückten Tische Platz. Er begann in trockener Geschäftsmäßigkeit die Sache zu erledigen. Alle Vorbedingungen waren bereits auf ihre Richtigkeit geprüft; das Nichtvorhandensein leiblicher Nachkommen war festgestellt. Olga hatte eine Stunde gebraucht, um die Abschrift jenes Schiffrapportes in den Papieren des Vaters ausfindig zu machen, wonach Heinrich von Gamlingen, der Aelteste, auf der Ueberfahrt verstorben und seegemäß bestattet worden war. Hatte der Verstorbene denn keine leiblichen Nachkommen, die seinen Namen beerbten? Die Rubrik „Familienstand“ wies einen flüchtigen Federstrich auf, der „Vakat“ bedeutete, wie auch ein ähnliches Vakatzeichen die Frage nach dem Beruf mit einer gewissen Nichtachtung für die wohl nicht glänzende Erscheinung des Verstorbenen beantwortete.

Eine Tortur, den Kranken dort liegen zu sehen mit seinem fieberrothen Gesicht, das vom schnell hauchenden Athem leicht bewegt wurde. Die eine Hand vollführte kleine, regelmäßig ausholende eigensinnige Streichbewegungen über die Decke hin, als wollte sie irgend etwas Lästiges, das in seiner Phantasie da war und nicht weichen wollte, beseitigen. Hatte er denn ein Bewußtsein des wichtigen Aktes? Vorhin hatte er noch Zeichen seiner Theilnahme gegeben. Aber er wollte vielleicht schlafen – er bedurfte der Ruhe; man sollte ihm doch die letzte Wohlthat dieses Schlafes gönnen!

Walther hatte vor Beginn der Verhandlung Einspruch erhoben: man möchte es doch aufschieben!

„Aufschieben? Ich bitte Sie –!“ fuhr Frau Belzig entrüstet auf. „Bis wann … bis wann wollen Sie denn …“

Sie erschrak selbst über die Brutalität dieser Worte. Und in den weichen Ton zurückfallend, verbesserte sie sich: „Wir werden ihn doch jetzt nicht im Stiche lassen? – Sie haben es ihm doch zugesagt! Er ist so glücklich.“

Das Protokoll wurde mit vollster Gemächlichkeit aufgenommen. Walther saß und sah die Feder über das Papier dahinschleichen. Ist denn die Pein nicht bald zu Ende? – und er horchte auf den breitgedehnten Athem des Schreibenden, der mit seinem Keuchen das Zimmer beherrschte und hinter dem der dünne Hauch des Kranken fast verschwand. Olga stand am Fenster, das Gesicht gegen den aufgelehnten Arm gebeugt. Frau Belzig saß auf der anderen Seite des Notars. Auch ihre Augen schienen das Kritzeln der Feder beschleunigen zu wollen. Mit fieberischer Ungeduld wechselten ihre Blicke zwischen der Feder und dem Antlitz des Kranken.

Hier und da schwebte Schwester Jemina’s Schattengestalt durch die Stille. Das war die andere Tortur. Als wenn Walther sich vor ihren großen, grabesstummen Augen fürchtete, die kein Weinen und kein Lachen, keine Verwunderung und keine Leidenschaft zu kennen schienen. Sie ist eine geborene Komtesse, aber sie hat sich freiwillig ihres glänzenden Namens entkleidet, um sich als Handlangerin in den schweren Dienst des Samariterthums zu stellen. Und wir Erbärmlichen, die wir gekommen sind, einem Sterbenden mit gierigen Händen solch schillernden Fetzen, den jene fortgeworfen hat, zu entwinden!

Endlich war das Protokoll zu Ende. Mechanisch, mit gedämpfter Stimme las es der Notar; bei dem Objekt selbst hob sich seine Stimme klarer, und er buchstabirte mit aufhorchender Vorsicht die einzelnen Silben, als handelte es sich um die kostbaren Ziffern eines Vermögens. Dann versank er wieder in den gedämpften Ton. Plötzlich öffnete der Kranke die Augen, seine Lippen wisperten etwas. Dann kam deutlich ein Name hervor.

„Herr von Stachvogel …“ sagte er, wandte das Köpfchen langsam nach der Stube und schien mit den zwinkernden Augen Jemand zu suchen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_358.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2023)