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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

gefallen, wie einem Betrunkenen ja auch wohl ein Stock oder dergleichen aus der Hand gleitet. Er hatte die Zahl auf dem Herwege öfter vor sich hergemurmelt, und ihre Ziffern waren, während er sich mit den Andern unterhielt, wie eine gespenstische Verkörperung vor seinen Augen hin und her gehuscht. Jetzt war sie heraus – nun, aber auch das ist jetzt einerlei! Sie werden doch davon hören. Er wird die Spielschuld ja doch nicht bezahlen können und es wird – ja es muß etwas geschehen, was Allem ein Ende macht!

Mühüller machte mit dem Oberkörper eine suchende Wendung nach Jenem hinüber. Wieso? Was soll die Zahl? Was hat sie mit dem Unfall auf dem Eis zu thun? Aber gleich begann ihm eine Aufklärung zu dämmern. Mit einem angenommenen wichtigen Ton der Besorgniß sagte er:

„Sie dürfen dergleichen nicht vernachlässigen, Herr Graf; eine solche Verstauchung muß man ernst nehmen, sonst können Sie Monate daran leiden. Wir von der Turnerei verstehen uns darauf. Am besten ist Massage. Massage ist vorzüglich. Wir haben einen alten Sergeanten – ein geborener Doktor, er streicht Ihnen das Ding spielend weg. Er hat einen Daumen so breit wie ein Eßlöffel, aber er schafft Wunder damit. Darf ich Ihnen den Mann zuschicken – wo wohnen Sie doch noch?“

„Danke, danke, es wird schon von selbst vergehen.“

„Sonst recht gern!“

Plötzlich warf Mühüller in übertrieben gleichgültiger Weise die Bemerkung hin:

„Verzeihen Sie, Herr Graf, Sie nannten vorhin eine Zahl, etwas wie vierzigtausend; ich kann mich aber auch verhört haben …“

Nachewski grinste mit einem verschämten Lächeln, dabei erröthend wie ein junges Mädchen, dem man ein Liebesgeständniß ablocken will; seine runden Kinderaugen waren ängstlich gespannt.

Mühüller war neugierig, und er ließ seine Leute nicht leicht umverrichteter Dinge los. Er setzte also das Messer an und schnitt herzhaft zu.

„Gejeut? Hm?“

Und er drückte verschmitzt ein Auge zu und machte mit der hin- und herschlagenden Hand das bekannte Zeiehen für Hazardspiel.

Nachewski zuckte mit der einen Schulter.

„Und vierzigtausend? Wieso vierzigtausend?“

Nachewskt’s Augen flackerten auf; das Renommirgelüste eines Knaben flog ihn an, der einen besonders großartig gerathenen dummen Streich vollführt hat. Er nickte kurz.

Mühüller’s zugespitzten Lippen entfuhr ein lang aushaltender, gedämpfter Pfiff; er zog das rechte Bein mit beiden Armen hoch in den Schoß empor; dann das Bein immer noch festhaltend, die Lippen immer noch gespitzt, wiegte er sich mit dem Oberkörper nach vorn.

Nachewski saß wie zusammen gesunken, mit schlaff herabhängendem Kopf. Einen Augenblick nur – dann schnellte er empor – der verschämte Kinderausdruck war einer finsteren, unheilbedeutenden Verzerrung gewichen.

„Vierzigtausend,“ lachte er heiser, „hübsche Summe, wie? – Nicht die erste – derart. Vierzigtau…“ (sein Kopf wollte von Neuem herabsinken, er schien sich aber innerlich einen Stoß zu geben). „Heut’ – heut’ gerade – verteufelter Schneid, wie? – wie? – wie? (Er wiederholte das mit sich steigerndem Nachdruck.) Gerade heut’ die Vierzigtau… zu verpuffen! (Bei den ‚tausend‘ überfiel ihn jedesmal ein stoßartiges Schluchzen.) Erwarten ihn hier zu seiner Verlob… sitzt in einer Höhle und – und – Vierzigtau… Famose Ueberrasch… für den Herrn Schwieger… wie? – wie? – Wäre im Stande – auch die Vierzigtau… Vierzigtau… zu bezahlen – ein guter Kerl – vor drei Tagen hat er – erst – eben so viel – thut mir leid – thut mir wirklich leid –“

Und nach ein paar heftigeren Schluchzern, die ihm weh zu thun schienen: „Ach, genug der Scherze! – Es ist gut! Gut, daß der Teufel so fix war! (Das brachte er für seinen Zustand merkwürdig sicher heraus.) Hätte doch eines Tages kommen müssen! Es ist das Blut, wissen Sie – das Blut – es ist das Blut! Unser Verhängniß. Es ist das Blut, das Blut! Mein Großvater hat fast sein ganzes Vermögen in drei Tagen – heidi! Schoß sich eine Kugel vor den Kopf. Und ich glaube – ich glaube – ich thäte – ich könnte –“

„Herr Belzig ist ein sehr reicher Mann und sie haben Alle ein gutes Herz, diese Belzigs,“ fiel Mühüller gedehnt ein.

„Unmöglich! – Es ist gut so! es ist aus –“ stöhnte Nachewski.

„Sie müßten Jemandem, einem Ehrenmanne, der es gut mit Ihnen meint, das Versprechen geben, nicht mehr zu spielen. Ihr Wort meinetwegen – dann ließe sich ja noch ein Arrangement treffen.“

Eine Redensart, aber der brave Mühüller dachte wirklich einen Augenblick daran, was man wohl, thun müßte, was wohl die Menschenpflicht geböte, diesen Versinkenden mit seinen „Vierzigtau…“ doch noch zu retten.

Nachewski wiegte stumm und müde den Kopf, und seine Augen verschwanden fast gänzlich unter den düsteren Faltenwulsten seiner Brauen.

„Mehr als einmal – kann man – doch ein – solches – Wort – nicht geben –“ murmelte er dumpf mit gebrochener Stimme in sich hinein. „Ein Wort – ein Wort – es giebt deren, die keinen Sechser werth sind …“

Wieder entfuhr Mühüller’s Lippen ein pfeifender Ton, aber tiefer und kürzer diesmal.

Wieder fuhr Nachewski erschreckt empor. Was hatten seine Lippen soeben verrathen? – Doch nicht etwa das mit dem Ehrenwort?

„Ist es das?!“ sagten die sehr hochgezogenen, wagerechten Falten auf Mühüller’s Stirn. „Dann freilich …“ rief er und stockte.

Nachewski starrte ihn wie hilfeflehend an.

„Dann freilich!“ hub Mühüller von Neuem an, nachdrücklich, mit einem eisigen Ausdruck, der einem Dritten wohl einen Schauder erregt hätte. „Dann freilich thun Sie am besten …“

Nochmals hielt er inne. Es rauschte eben ein Paar durch das Boudoir, auf die Töne des beginnenden Walzers hin, der im Ballsaal angestimmt wurde. Eine blühende Frauengestalt, ganz in glänzendes Weiß gekleidet, und ein hübscher Herr mit einem glückseligen Lächeln. Sie unterhielten sich fröhlich und lebhaft. Nun verschwanden ihre Stimmen in dem allgemeinen Gesumme des Tanzsaales. Eine Engelserscheinung, die lichtvoll durch die gewitterschwüle Dunkelheit dieses Gespräches geschritten war.

Doch diese Erscheinung vermochte nicht, das, was Mühüller auszusprechen hatte, auf seinen Lippen zurückzudrängen. Er zögerte nur, und während dem schoß eine Erinnerung unheimlicher Art aus seinem Lieutenantsleben an ihm vorüber. Vor Jahren war von einem Kameraden des Regiments irgend eine Unehrenhaftigkeit begangen worden, die ihm die Epauletten verwirken mußte. Es stand ein Skandal für das Regiment bevor. Da beschlossen einzelne der Officiere in später Abendstunde, den Verbrecher zu veranlassen, sich selbst zu richten und so den häßlichen Makel von dem Officierkorps abzuwenden. Mühüller wurde dazu bestimmt, die sehr peinliche Ausführung dieses Beschlusses zu übernehmen Und er ging am Frühmorgen hin, trat in die dämmernde Schlafstube des Verbrechers und legte, nachdem er ihm den Beschluß der Officiere mit einer energischen Anrufung an das Restgefühl von Kameradschaft mitgetheilt, den geladenen Revolver mit einer feierlichen Verbeugung auf das Tischchen.

Und hier war es die große Kameradschaft aller Ehrenmänner, von der sich Mühüller beauftragt glaubte. Ganz trocken, in dienstmäßiger Nüchternheit, ohne mit den hellen Wimpern zu zucken, aber auch ohne Jenen anzusehen, sagte er:

„Dann freilich kann ich Ihnen nur dringend rathen, das zu thun, was Ihr Herr Großvater gethan. Pardon, daß ich auf diesen Herrn Bezug nehme …“

Und als Begleitung zu diesen Worten die schwungvollen Takte eines der bestrickendsten und poetischsten Strauß’schen Walzer, der da drinnen die junge Welt in Entzücken versetzte.

Als Nachewski nach einer guten Weile die Augen von den gepreßten Figuren der bronzeglänzenden Ledertapete gegenüber losriß, war Mühüller verschwunden. Er meinte gesehen zu haben, wie dieser eben an der Thüröffnung des Saales, eine Dame im Arm, mit lächelndem Gesicht vorübergeschwebt. Aber das, was Mühüller ihm vorhin gesagt, klang doch für einen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 322. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_322.jpg&oldid=- (Version vom 19.11.2023)