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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Mögt Ihr nicht auch mithalten, Herr Zacharias?“ wandte sich Werner an den Schließer, welcher den Korb auf den steinernen Tisch gestellt hatte und dessen Inhalt mit lüsternen Blicken musterte.

„Habe jetzt keine Zeit, muß meine anderen Pflegekinder versorgen, aber später, wenn ich wieder komme, finde ich vielleicht noch einen Becher Wein übrig und ein Stück von der prächtigen Wildpastete.“

,O, Ihr sollt von Allem haben,“ erwiederte Werner, und der alte Zacharias verließ, in Erwartung der seltenen Tafelfreuden, fröhlich mit dem Schlüsselbund klappernd, die Zelle.

Kaum war Werner allein, so entleerte er hastig den Korb seines Inhaltes. Vor Allem griff er nach dem Mohnwecken.

„Am Ende hat es eine besondere Bewandtniß damit, weil mir derselbe so auffallend bezeichnet wurde,“ schoß es ihm plötzlich durch den Kopf, und rasch brach er ihn aus einander. Siehe – da war mitten in die Krume ein dünnes Röckchen Pergament eingesteckt. Mit fiebernder Hast entrollte Werner das Blatt und las die zugleich beglückenden und räthselhaften Worte: „Nur getrost, Sie Aermster, im rechten Moment wird das Scherenrecht Sie retten!“

Ein Seufzer unsäglicher Erleichterung entrang sich der Brust des Gefangenen, als er die Heilsbotschaft gelesen. Wenn er sich auch vergebens abquälte, was das Scherenrecht besagen wollte, so galt ihm nun doch als unumstößliche Gewißheit, daß seine Befreiung bevorstände!




Das unerhörte Vorkommniß, welches den Frieden des Damenstiftes gestört, bewegte alle Gemüther im höchsten Grade. Wie ein Schwarm aufgescheuchter Tauben, in welchen der Habicht eingefallen, flatterten in den Stunden nach dem Raubanfall die Fräulein, aller Würde ihrer sechzehn Ahnen vergessend, mit fliegenden Schleppen in den Korridors des Klosters umher. Endlich fanden sich Alle, wie auf Verabredung, im Konversationssaal zusammen und lauschten mit nimmersatter Neugierde auf die Berichte der zwei Hauptzeuginnen des grausen Verbrechens. Die Gräfin wollte es sich jetzt wieder doch nicht nehmen lassen, daß die Stellung, in der sie den Räuber zuerst erblickt, aufs Haar der eines stürmischen Galans geglichen. „Und welch’ wunderschöner Jüngling der schreckliche Bösewicht gewesen!“ setzte ihre jüngere Gefährtin mit schwärmerischem Augenaufschlag hinzu.

Benigna von Elmenau hatte Mühe, allen romantischen Auslegungen der peinlichen Geschichte zu steuern. Mit Sorge malte sie sich aus, welchen Umfang erst Klatsch und Verleumdung nehmen würden, falls die Wahrheit zu Tage kommen müßte. Wehe dann dem Ruf ihrer geliebten schuldlosen Prinzessin!

Mit mütterlicher Theilnahme suchte Benigna von Zeit zu Zeit die Fürstin auf, um sich zu überzeugen, daß in deren Pflege Nichts versäumt würde. Frau Mathilde lag noch immer im Fieber und phantasirte in beängstigender Weise; erst bei Tagesanbruch verfiel sie in einen tiefen Schlummer.

Die gute Benigna verbrachte ebenfalls in Sorgen eine schlaflose Nacht. Ihre Bestürzung war grenzenlos, als sie am späten Abend erfuhr, daß Franz Werner der Gerichtsbarkeit des Stifts entzogen und ins Gefängniß der Stadt gebracht worden sei. Der böse Fall war nun erst recht schlimm geworden. Sollte der verblendete Jüngling für sein allzuheißes Blut mit dem Leben büßen – unmöglich! So schien nichts Anderes übrig zu bleiben, als daß Benigna, wenn die Aebtissin nicht bald zum Bewußtsein zurückkehrte, selbst die leidige Wahrheit an den Tag brächte, um den Aermsten zu retten.

In früher Morgenstunde begab sich Fräulein von Elmenau wieder zur Aebtissin, um nach deren Befinden zu fragen. Wie groß war aber ihre freudige Ueberraschung, als sie die geliebte Fürstin völlig bei Besinnung und sogar in ihrem Bette aufsitzend und mit Schreiben beschäftigt fand.

„Dem Himmel sei Dank, daß ich Sie wieder so hergestellt sehe, erlauchte Frau, aber schreiben dürfen Sie um alle Welt noch nicht,“ mahnte Benigna.

„Auch nicht, wenn es sich um ein Menschenleben handelt?“ entgegnete die Prinzessin aufgeregt. „Als ich erwachte, war meine erste Frage, was mit dem Gefangenen geschehen? Stellen Sie sich mein Entsetzen vor, als ich erfuhr, daß der Unglückliche der Justiz der Stadt verfallen ist und schon diesen Morgen abgeurtheilt – zum grauenvollen Henkertode verurtheilt wird! Es ist keine Minute mehr zu verlieren, ich habe hier die volle Wahrheit niedergelegt, und Fernhaber soll sogleich damit zum Bürgermeister.“

,O, das macht Ihrem Herzen alle Ehre,“ erwiederte das Fräulein bewegt, „doch warum jetzt schon zum äußersten Mittel greifen, das erst recht dem Uebelwollen Thür und Thor öffnen würde? Warten wir wenigstens so lange damit, bis ich den Kanzleidirektor aufgesucht. Vielleicht findet unser treuer kluger Fernhaber einen Ausweg, Werner zu retten, ohne daß Sie, wenn auch ohne Verschulden, in Mitleidenschaft gezogen werden!“

Lange wollte die Prinzessin Nichts von diesem Aufschub hören. Nur zögernd gab sie endlich dem Drängen Benigna’s nach, weniger aus Ueberzeugung als aus körperlicher Schwäche. Sie fühlte sich durch das Fieber und die Anstrengung, welche ihr das Schreiben gekostet, so erschöpft, daß sie vorerst nicht mehr im Stande war, Benigna’s Gründe zu bekämpfen. Binnen Kurzem verfiel Frau Mathilde aufs Neue in wohlthätigen Schlummer und der hinzugekommene Medikus gab alle Hoffnung, daß die baldige Genesung der Fürstin bevorstehe.

Benigna suchte nunmehr den Kanzleidirektor auf, um in dem seltsamen Kriminalfall seinen Rath und Beistand zu erbitten. Auf Fräulein von Elmenau’s ängstliche Frage bestätigte ihr der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_314.jpg&oldid=- (Version vom 8.5.2023)