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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

PARTIE am SCHLOSS ROSENSTEIN
R PÜTTNER

Auf der Hasenbergstation nimmt uns sofort der Buchenwald in seine kühlen Schatten und geleitet uns auf anmuthigen Pfaden rasch zu dem runden Aussichtsthurm (vergl. S. 240 und S. 241), wo wir wieder mit unserem Künstler zusammentreffen. Haben wir dann vom hohen Thurm des Blicks genossen „hernieder auf ein schönes Land“, so wenden wir uns dem Denkmal des Dichters zu, der den Reiz dieser Gegend so voll empfunden, so hinreißend geschildert hat. Nur fünfzig Schritte abwärts in den Gartenanlagen an wunderschöner Stelle erhebt sich über dem Halbrund einer edelgeformten Exedra die Marmorbüste Wilhelm Hauff’s, während die Ruhebank unter ihr zu beschaulicher Betrachtung einlädt. Es war ein sinniger Gedanke, hier in freier, lichter Höhe, wo der Blick zur Alb mit dem Lichtenstein schweift, dem liebenswürdigsten der schwäbischen Dichter sein Denkmal zu setzen, der, in Stuttgart geboren und, noch nicht fünfundzwanzig Jahre alt, in Stuttgart gestorben, am frühesten von allen, denen die Muse den Scheitel berührt, von der Welt hat scheiden müssen, die so sonnenhell vor seinem Auge lag. Seine Märchen sind das Labsal der Kinder, sein „Lichtenstein“ das Entzücken der ersten, romantisch empfindenden Jugend, und es hat etwas Rührendes, wenn so eine jugendliche Schar die Feldsträuße, die sie droben im Walde gepflückt, heimkehrend an seiner Büste niederlegt.

Doch der Künstler mahnt zum Weitergehen. Immer auf der Hochfläche fort, und immer im Waldesschatten, gelangen wir nach einer Stunde oder mehr zu seinem fernsten Punkte, dem alten Lustschloß Solitude (vergl. Vignette S. 247). Erstaunt bemerken wir, aus dem Wald an den steilen Abhang tretend, wie hoch wir stehen und welch unermeßliche Fernsicht vor unseren Augen liegt. Noch verwunderter aber betrachten wir das Schloß, das auf dieser einsamen Waldeshöhe in das Land hinausblickt. Da sind wir nun auf einmal in der Welt des Rokoko. Nichts Zierlicheres, Kapriciöseres als dieser elegante Bau mit den breiten, seltsam gewundenen Freitreppen, mit der mächtigen, ringsum laufenden Balustrade, mit den geschweiften Mauern und Wänden, und nun vollends innen die flottgemalten Decken und die verschwenderische Fülle der Spiegel, und die Amoretten und Putten und vergoldeten Schnörkel und all der tändelnde, glitzernde, frivole Zierrath der Kunst von damals – die echte Schöpfung des geistreichsten unter den kleinen Tyrannen jener Tage, des Herzogs Karl Eugen. Fürwahr, wenn man durch diese Prunksäle wandelt, versteht man mit einem Male den Geist der Zeit, in welche Schiller’s Jugendjahre fallen. Und er selbst! – Die Solitude ist ja voll von Schiller-Erinnerungen: hier ist der Dreizehnjährige scheu und schüchtern vor den Gewaltigen getreten, der nun sein Schicksal in die Hand nimmt; hier hat er dritthalb Jahre, so lange die Schule auf der Solitude blieb, unter dem Druck einer geistlosen Disciplin gelitten, während schon der Morgenglanz der Ideale vor seiner trunkenen Seele stand; hier hat dann sein Vater als Verwalter der herzoglichen Gärten tüchtig und würdig geschaltet, und wie manchmal ist der Herr Regimentsmedikus, die „Räuber“ in der Tasche, von Stuttgart heraufgeritten gekommen, als schon der Ruhm mit verlockendem Schimmer seine Stirn streifte! Und wie er mit Streicher in jener Nacht entfloh, da hier oben dem Großfürsten Paul ein Prunkfest gegeben ward, und auf der Straße nach Ludwigsburg die Solitude tageshell erleuchtet sah, da kam, wie uns der treue Streicher erzählt, das ganze Gefühl seines Schicksals über ihn, und mit dem Ruf: „Meine Mutter!“ sank er auf seinen Sitz zurück.

Wenden wir uns nun von diesen Streifzügen in die Umgegend zu der Stadt selbst zurück und durchwandern wir ihre Straßen! Stuttgart fehlt das bestimmt ausgesprochene geschichtliche Gepräge, das den Stolz der alten Reichsstädte bildet. Wohl ist die Vergangenheit in verschiedenen Epochen durch eine Reihe von Bauten nicht unwürdig vertreten; aber der Gesammteindruck der älteren Theile bis über die Hälfte unseres Jahrhunderts hinaus zeugte weder von verbreitetem Wohlstand, noch von besonderer Freude an schöner Gestaltung der Wohnräume. An die alterthümlich hohen Häuser mit den übergebauten Stockwerken in den engen Gassen der Altstadt und an die immerhin behäbigeren, aber doch noch recht schlichten und anspruchslosen Gebäude der sogenannten oberen Stadt, die schon von Graf Eberhard am Ende des 15. Jahrhunderts in regelmäßigen Quadraten angelegt wurde, schlossen sich vom Beginn des jetzigen Jahrhunderts an lange, einförmige Straßenlinien mit den nüchternsten Fachwerkbauten, ganz nur für zinstragende Ausnützung bestimmt. Das ist nun in neuerer Zeit völlig anders geworden.

Die Ansprüche an Bequemlichkeit des Wohnens, an gefälligen Schmuck des Hauses im Aeußern wie im Innern sind im Laufe eines Jahrzehnts in ungeahntem Grade gestiegen, haben immer weitere Schichten der Bevölkerung ergriffen und dadurch einen stets sich steigernden Wettkampf in Befriedigung der veredelten Bedürfnisse hervorgerufen, der für die Physiognomie der Stadt vom größten Einfluß werden mußte. Dabei hat sich die gewaltige Bewegung auf diesem Gebiete durchweg in erfreulichen Bahnen gehalten und eben sowohl in Erfindung und Verwendung der künstlerischen Formen und Stilgattungen wie in der Sorgfalt und Tüchtigkeit der technischen Ausführung den gesteigerten Ansprüchen genügt. Die Grundlage für eine gesunde Entwickelung bot die neue Bau-Ordnung, die den Massivbau zur Vorschrift machte; die Muster und Vorbilder aber und die festen Zielpunkte gaben die beiden Altmeister Egle und Leins, neben und unter denen ein ganzer Generalstab von trefflichen Meistern erstanden und durch die Fülle und Mannigfaltigkeit der Aufgaben zu immer höherem Streben angeregt worden ist.

Der Natur der Sache nach sind es auch hier zunächst die Außentheile der Stadt, denen die neue Bau-Entwickelung zu Gute kam. Zumal in jenen Straßen, die an den Höhen emporsteigen, sind auf weite Strecken Bauten zu sehen, welche durch Feinheit der Erfindung und Reiz der Façaden dem musternden Auge Genuß gewähren, und die Hunderte von Landhäusern, die an den Abhängen oder in Bergfalten zerstreut liegen, boten ja von selbst der Phantasie und dem Raumgefühl des erfindenden Künstlers den mannigfaltigsten Anreiz.

Aber auch das Innere der Stadt hat sich in seinen Haupttheilen wesentlich gehoben, in seinem Gesammteindruck völlig verändert. Staat und Gemeinde, Vereine und Institute haben eine stattliche Zahl von glänzenden Monumentalbauten aufgerichtet; vier neue große Kirchen sind erstanden, die zugleich mit ihren Kuppeln und Thürmen die Silhouette der Stadt aufs Günstigste beleben; Lücken in den älteren Straßen sind ausgefüllt, unscheinbare Häuser durch prachtvolle Neubauten ersetzt worden. Das Merkwürdigste aber ist der unaufhaltsame Drang, der dem Alten selbst in die Glieder gefahren ist, durch bunte Bemalung der Façaden, durch farbige Hervorhebung der Bauglieder, durch geschickt aufgesetzte Zieraten, kurz durch Mittel aller Art sich ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 246. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_246.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)