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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

mich zur Bahn; um neun Uhr ging der Zug nach San Remo, meinem Aufenthaltsorte. Ich athmete auf in dem leeren Wartesaal; das Personal sah mich erstaunt an; heute Abend nach San Remo – aus Nizza? Unglaublich! Ich war natürlich allein im Koupé; mir war Einsamkeit so süß. Fort ging’s den Strand entlang in der herrlichen sternenvollen Nacht, an Monte Carlo vorbei, dessen Marmorpaläste aus dem Dunkel der Oliven und Palmen hervorleuchteten. Ueberall Stille – Nizza hat heute Alles verschlungen. Stille herrscht auch in Mentone, wo das Meer einen Doppelbusen bildet, Stille herrscht jetzt auf dem weiten Strande, auf welchem sonst ein buntes Treiben fluthet, in welchem die Söhne und Töchter Albions überwiegen. So durcheilen wir diese Küste, welche wie eine kostbare Perlenkette sich von Nizza bis Spezia erstreckt. Die herrlichen Juwele Nizza, Monaco, Monte Carlo, Mentone liegen schon hinter uns; bei Ventimiglia erreichen wir die französische Grenze, und nun beginnt die italienische Riviera ihre Reize zu entfalten: San Remo, Savona, Pegli, das vielbesuchte Nervi und Spezia reihen sich wie kostbare Edelsteine um den strahlenden Krondiamanten Genua.

Ausgabe von Briefen im Freien. 
 Die ersten Augenblicke nach dem Erdbeben.

San Remo! Ich stieg aus; da war’s lebendiger; die Fluth des Karnevals warf auch hierher ihre Wogen, wenn auch nicht so stürmisch wie in Nizza. Masken riefen mir verbrauchte Späße zu. Tanzmusik, Guitarrenklänge ertönten aus allen Lokalen. Es waren ja nur noch wenige Stunden, dann – carne vale!

Ich schlief unruhig. Das Geprassel der Confetti, die feurigen Blicke, der Blumenduft verwoben sich im Traume zu unzähligen Bildern – doch schlief ich. Plötzlich erwachte ich. Bin ich noch im Zuge? Ich blicke aufwärts, greife um mich im fahlen Dämmerschein: das ist ein Zimmer, ein Bett, und doch bewegt sich, rasselt, klirrt, schwingt sich Alles, ich selbst, das Bett! Mit einem Sprunge bin ich heraus. Unterirdischer Donner rollt. Das Haus stürzt ein. Ischia – die Namen meiner Lieben zu Hause: das Alles zuckt blitzartig durch mein Gehirn. Ich öffne die Thür und stelle mich unter die Füllung. Vom Plafond fallen schwere Kalkstücke auf das eben verlassene Bett. Seltsam! Ich fange trotz Allem zu – zählen an; zähle bis 84; dann hört die Bewegung auf, und ich wundere mich, daß das Haus noch steht.

Madonna! Madonna bellissima! Santa madre!“ tont es in dem finsteren Gange, weiße Gestalten mit zerwühltem Haare stürzen aus den Thüren, einige verhüllen ihre Blöße mit irgend einem bunten Maskenstück von gestern. Viele denken gar nicht daran; ein Herr hält sorgsam die Stiefel in seiner Hand; eine Dame läßt sich nur mit Gewalt abhalten, im Hemde barfuß auf die Straße zu eilen. „Terra mota! Tremblement de terre! – Erdbeben! retten Sie! Hilfe! Meine Kinder! Wird es wiederkommen?“ stöhnt es durch einander.

Neues unterirdisches Getöse ist die Antwort. Das Haus bebt wie von Fiebern geschüttelt. Kalk löst sich von der Decke und fällt, Alles in Staub hüllend, zu Boden; ein stürzender Wandspiegel läßt mit seinem klirrenden polternden Getöse die Verwirrung ins Unendliche wachsen. Alles stürzt die Treppe hinab, die bleichen, angstverzerrten Züge tragen noch die Spuren der durchschwärmten Nacht, ich denke trotz allem an das Bacchanal in Nizza; vielleicht war er dort noch schlimmer, der Aktschluß des „Propheten“!

Alles eilt dem Meere zu. Auf der Promenade bietet sich ein eigenthümliches Schauspiel. Das ganze elegante Publikum der gegenüberliegenden Hôtels d’Angleterre, Royal hat sich hierher geflüchtet. Mütter mit ungeordnetem Haar, nothdürftig bekleidet, ziehen auf der Steinbrüstung ihre nackten, frierenden Kinder an; schwer Kranke werden herbeigeschleppt; überall stehen erregte Gruppen. Aus den Handbewegungen kann man den Inhalt des Gespräches errathen, jeder erzählt, welche Empfindung er gehabt, jeder fürchtet, hofft, macht Pläne. Der Gefahr entfliehen, wohin? Noch waren keine Nachrichten da, wie weit das Erdbeben sich erstreckte. Der Bahnhof, das Telegraphenamt waren belagert; das sonst bis zur Peinlichkeit elegante Publikum machte jetzt ungekämmt, halb angezogen, alle sonst sorgsam geheimgehaltenen Schwächen verrathend, einen trotz des Ernstes der Lage komischen Eindruck. Da kamen die ersten Depeschen: in Nizza, Mentone, Porto Maurizio, Bordighera, Diano Marina noch schlimmer; die ganze Küste bebte. Man war eingeschlossen.

Plötzlich in dem allgemeinen Drängen, grollte es zum vierten Male unter den Füßen; es war, als käme der Donner vom Meere her; wie eine Schar Staare, auf die ein Schuß abgefeuert wurde, stob Alles schreiend auseinander. Man stand auf einem Vulkan; nur Flucht konnte retten, so dachte Alles. Hochbepackte Hôtelwagen rollten herbei, um 10 Uhr mußte der Zug von Nizza nach Genua kommen. Fort um jeden Preis! Der Schalter wurde gestürmt. Der Zug kam lange nicht; endlich um 11 Uhr keuchte er heran, überfüllt von Flüchtigen aus Mentone und Nizza; man drängte sich ohne Billette in die Wagen, das Personal war machtlos; an Gepäck dachte Niemand mehr! Eine Dame in vollstem Negligé klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an eine Thürklinke des schon abgehenden Zuges. Hunderte sahen ihm händeringend, alle Fassung verlierend nach. Der Untergang der ganzen Riviera war schon zur fixen Idee geworden.

Es war ein freudiger, sonniger Tag, nicht das geringste Anzeichen in der Natur von den gewaltigen Kämpfen in dem Innern der Erde. Das Meer warf mit majestätischem Gleichmuth seine Wellen an den Strand. Mit dem Sonnenlichte zog wieder Fassung ein in die geängstigten Herzen. Aber entsetzliche Post traf ein von allen Seiten. In Bajardo hatte die Kirche Hunderte begraben; Bussana, zwei Stunden entfernt, war nicht mehr. Auch in der Altstadt gab es Todte und Verwundete.

Ein furchtbarer Aschermittwoch war hereingebrochen über die Riviera, ein Carne vale für Hunderte in der vollsten Bedeutung des Wortes.

Nach Bussana! Ich wollte einmal dem Entsetzen, der Teufelei der Natur ins Antlitz schauen. Ein herrlicher Weg führte mich die Küste des Meeres entlang. Die gelben Felsen zur Linken, die wogenzerfressenen Klippen, das blaue, leise sich kräuselnde Meer mit einigen Seglern, die wie weiße Vögel in das milde Blau des Himmels hineinragten – eine idyllische Landschaft – voll Friede! Heuchlerin, Urfeindin Natur, mit der wir ringen von der Geburt bis zum Grab, in uns, außer uns – ich glaube dir nichts mehr, ich fahre ja zu deinen Opfern, Sirene! – Der Weg biegt rechts ab durch Olivenhaine. Bald erblicke ich burgengleich auf bewaldeten Anhöhen zwei Orte, der rechtsliegende ist Bussana; es ist schwer zu erkennen, welches von den Dörfern das verwüstete ist; hier zu Lande gleicht ja jedes Dorf einer Brandstätte, die altersgrauen Mauern, die ein Gebäude zu bilden scheinen, erheben sich malerisch aus dem Graugrün der Oliven; aber Zeichen des Unheils kommen mir schon auf halbem Wege entgegen. Zwei mit allem möglichen Hausrath belastete Esel traben die staubige Straße herab. „Von Bussana?“ frage ich den Treiber. Er nickt stumpf mit dem grauen, verwitterten Kopf. Ich will ihn nicht weiter fragen; das Unglück haßt die Neugierde. Ein altes Mütterchen treibt eine Kuh herab, wohl das Einzige, was ihr geblieben. Jetzt naht ein ganzer Zug. Männer, Frauen, Kinder, voran das leibhaftige Modell zu Kaulbach’s „Dorothea“. Eine hohe kräftige Gestalt, mit anmuthiger Bewegung einen schweren Bündel auf dem Kopf haltend; der braune, fein modellirte Arm hebt sich in tadelloser Linie vom blauen Himmel ab. Bitterer Trotz ruht in dem dunklen Antlitz; mich rührt er mehr als alle Thränen. Stumpfsinnig folgten die Anderen, schwer bepackt, ich hörte keine Klage, keine Bitte. Eine solche Nacht mag wohl Alles ertödten.

Villa Cipollino in Mentone.0 Nach einer Photographie.

Vor dem engen burgartigen Thore des Dorfes lagerten Soldaten, den Eintritt verwehrend, ihre Kameraden drinnen vollzogen das Rettungswerk. Nebenan unter den Oliven das Lager der Bewohner. Mit grellen Lumpen malerisch drapirte Gestalten, Frauen, Männer, nackte Kinder, stehen, hocken umher, stumpfsinnig, apathisch, ermattet von all den Schrecken auf die armseligen Betten und Matratzen hingesunken. Neben dem Wege, an eine zerfallene Mauer gelehnt, liegt eine Frau, ihr Gesicht ist mit einem nassen, blutigen Tuch bedeckt, schwer wogt die Brust; Kinder umringen sie laut jammernd: o madre, madre! Ein junger Officier kniet neben ihr und spricht ihr Trost zu; ich frage ihn nach dem Befinden der Armen.

„Vorbei,“ sagt mir seine Geste. „Und die Todten, die Verwundeten?“ „Hier oben,“ er deutete auf die Osteria oben auf einem Felsen.

„Wie viel?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 213. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_213.jpg&oldid=- (Version vom 27.3.2023)