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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

das Thier vollkommen auf beiden Augen, während es im Vollbesitze aller anderen Sinne bleibt. Der so verstümmelte Hund hört, riecht, schmeckt und fühlt wie ein gesunder Hund, macht alle Bewegungen normal, hat auch sonst von seiner Intelligenz nichts eingebüßt; nur den Gesichtssinn hat er vollständig verloren, obgleich die Augen sich wie gewöhnlich bewegen, die Pupillen sich verengen und erweitern. Eben so wie sich in diesem Falle erweist, daß die Lichtempfindungen und Gesichtswahrnehmungen an die Sehsphären der Großhirnrinde gebunden sind, so läßt sich durch Entfernung einer bestimmten Gehirnpartie an beiden Hirnhälften eines Hundes erzielen, daß dieser auf beiden Ohren vollkommen taub wird (wozu sich nach einigen Wochen noch Taubstummheit einfindet), während seine übrigen Sinne normal funktioniren. Die betreffenden Stellen des Gehirnes, von denen demnach die Schallempfindungen und Gehörswahrnehmungen abhängig sind, bezeichnet man als Hörsphären. Und wiederum andere Theile der Großhirnrinde bekunden sich als Gefühlssphären, von denen die Gefühlswahrnehmungen und Gefühlsvorstellungen ausgehen. Werden diese Theile verletzt, so werden je nach der Größe der Hirnverletzung Störungen der Wahrnehmung von Druck, des Tastgefühles und der Temperaturempfindung an mehr oder minder verbreiteten Körperstellen beobachtet.

Interessant gestalten sich die Störungen der Sinnesorgane, wenn gewisse Theile in den hinteren Theilen der Hirnhemisphären (nicht die Seh- und Gehörsphären selbst) bei Versuchsthieren zerstört werden. In solcher Weise verletzte Hunde sehen und hören zwar noch, aber sie haben das Verständniß für das Gesehene und Gehörte eingebüßt. Neugierig um sich glotzend, wissen sie nichts mit dem Gesehenen anzufangen; sie beachten nicht die ihnen gereichte Fleischschüssel, fürchten nicht die ihnen drohend vorgehaltene Peitsche und freuen sich nicht am Anblicke ihres ihnen sonst willkommenen Herrn. Auf jedes Geräusch die Ohren spitzend und jeden Ruf wahrnehmend, wissen sie nicht mehr, was dieser bedeutet, und folgen auch nicht dem Pfiffe, der sie früher zu raschem Sprunge antrieb. Man bezeichnet diese Störungen, bei denen die Erinnerungsbilder des Gesehenen und Gehörten verloren gegangen sind, als Seelenblindheit und Seelentaubheit.

An bestimmte engumgrenzte Bezirke der beiden Großhirnrinden ist auch das dem Menschen als höchst organisirten Wesen eigenthümliche Vermögen gebunden, seinen Gedanken und Vorstellungen durch die Sprache Ausdruck zu verleihen. Verletzungen und Erkrankungen des Gehirns an jenen Stellen haben darum, auch wenn der Sprachapparat des Menschen vollkommen normal ist, die Folge, daß der Betroffene, der ganz wohl im Stande ist, Vorstellungen zu empfangen und geistig mit einander ordnungsgemäß in Verbindung zu bringen, doch nicht vermag, seinen Gedanken das entsprechende äußere Zeichen zu verleihen. Die richtige Sprache ist ihm verloren gegangen, und er vermag entweder die Worte überhaupt nicht deutlich und nach ihrem Wortlaute auszusprechen, oder es fehlt ihm das einer bestimmten Vorstellung entsprechende Wort, und er bringt ein anderes statt des richtigen hervor. Mit solcher Sprachstörung, die in der Erkrankung des Gehirns ihren Grund hat, ist zuweilen auch das Unvermögen verbunden, die Begriffe durch die Schriftzeichen oder durch Mienen, Zeichen und Gebärden auszudrücken, sowie Worte zu verstehen, wie sie gesprochen werden, oder zu lesen, wie sie in Schriftzügen vor Augen sind.

Im Gehirne befinden sich auch die Centren für die mannigfachen Apparate der Willkürbewegungen des Körpers, für die Erhaltung und Beherrschung des Körpergleichgewichtes, für die Regulirung der Athembewegungen, für die Anpassung der Herzthätigkeit und der Blutgefäßspannung an die wechselvollen Bedürfnisse des Organismus.

Begreiflich ist darum aus dem eben flüchtig Erörterten, daß eine Hirnblutung (Gehirnschlag) je nach der Stelle des Gehirnes, an welcher sie eintritt, eben so auch nach der Ausdehnung des Blutergusses, mehr oder minder bedrohliche Folge-Erscheinungen verursacht. Eine ausgedehnte Blutung, durch welche viel Hirnsubstanz zertrümmert wurde, oder ein Bluterguß in Gehirnpartien, welche für Athmung und Herzbewegung besondere Bedeutung haben, führt rasches tödliches Ende herbei. Je tiefer die Bewußtlosigkeit des Individuums unmittelbar nach dem Schlaganfalle ist und je länger sie anhält, je unregelmäßiger sich Herzschlag und Athmung gestaltet, um so mehr Grund ist vorhanden, für das Leben des Leidenden zu fürchten.

Geringer, aber doch immer ernst genug, sind die Gefahren, wenn der Bluterguß im Gehirne nur ein ganz kleiner und auf verhältnißmäßig minder bedeutungsvolle Hirnabschnitte beschränkt ist. In diesem Falle kann es zur allmählichen Vernarbung im Gehirne und zur langsamen Wiederherstellung des Kranken, ja sogar zur völligen Genesung kommen. Wenn der Kranke das Bewußtsein wieder erlangt und der Sturm bedrohlicher Erscheinungen sich gelegt hat, so zeigt sich als auffälligste Störung die Lähmung mehrfacher willkürlicher Muskeln. Der Druck des im Gehirne ausgetretenen Blutes, die Unterbrechung der Nervenbahnen und die Zertrümmerung der nervösen Elemente durch das ergossene Blut bringen solche Lähmung bestimmter Muskelgruppen zu Stande. Die gelähmten Muskeln leisten den Impulsen der Willkür nicht mehr oder nur sehr unvollkommen Folge. Die Lähmung betrifft zumeist nur die eine Körperhälfte und zwar in gekreuzter Richtung mit der Hirnblutung. Wenn diese in der rechten Gehirnhälfte stattgefunden hat, so ist auf der linken Seite des Körpers die Lähmung ausgeprägt, der linke Arm, das linke Bein, die linke Gesichtshälfte betroffen. Im Gesichte ist die hierdurch verursachte Entstellung eine auffällige: die Gesichtszüge haben durch Verstreichen der Nasenlippefalte, Herabhängen des Mundwinkels, Verziehen der Stirnfalten einen fremdartigen Ausdruck erhalten. Dabei ist die Zunge schwer beweglich; der Mund kann nicht zum Pfeifen gespitzt werden, das Sprechen ist schwierig, zuweilen sogar das Vermögen, für Vorstellungen die gebräuchlichen Worte zu finden, beeinträchtigt.

Diese Lähmungserscheinungen können dauernd bleiben oder sie nehmen bei günstigem Verlaufe des Krankheitsprocesses allmählich ab. Zuerst bessert sich gewöhnlich die Schwerfälligkeit der Zunge, die Beeinträchtigung des Sprachvermögens; dann wird fortschreitend das gelähmte Bein wieder nach und nach gebrauchsfähig; später tritt auch die willkürliche Beweglichkeit der krankhaft veränderten Gesichtshälfte ein, am längsten dauert die Lähmung des Armes. Mit der Zeit gleichen sich bei so glücklicher Heilung des Blutergusses im Gehirn so ziemlich alle dadurch hervorgerufenen Störungen aus, und nur eine gewisse Schwerfälligkeit in den körperlichen und geistigen Leistungen des Individuums bleibt zeitlebens zurück. In letzterer Beziehung erweist sich namentlich das Erinnerungsvermögen wesentlich geschwächt; neue Eindrücke haften schwer im Gedächtnisse, und der vom „Schlage“ Betroffene weiß sich viel besser auf die Ereignisse aus längstvergangener Zeit zu erinnern, als auf die Erlebnisse von heute und gestern. Die psychische Veränderung giebt sich ferner durch leichte Reizbarkeit, mürrisches Wesen, wechselvolle Launenhaftigkeit, trübe Stimmung, zuweilen auch durch geradezu kindisches Wesen und Schwachsinn kund. Nur allzu oft wird aber das Bild nach kürzerem oder längerem Bestande – zuweilen ist dem Kranken eine Ruhepause von zehn und sogar zwanzig Jahren gegönnt – durch Wiederholung des Schlaganfalles auf bedrohliche Art verändert, denn wenn es Manchem auch glückt, selbst mehreren wiederholten Anfällen zu widerstehen und sie zu überwinden, so erlischt doch zumeist in solchem Kampfe das immer schwächer flackernde Lebenslicht.

Der Gehirnschlag tritt höchst selten im jugendlichen Alter ein, auch nicht oft in den kräftigsten Lebensjahren, sondern am häufigsten in der Epoche, wo es mit uns stetig und unaufhaltsam abwärts geht, vom fünfzigsten Jahre an. In diesem Alter fangen zumeist die Veränderungen in den Wandungen der Blutgefäße an, wodurch diese von ihrer Elasticität und Weichheit verlieren, hart, starr und brüchig werden. Treten nun Verhältnisse ein, welche in dauernder Weise oder plötzlich sehr heftig den Blutdruck in den Gefäßen bedeutend steigern, einen mächtigen Blutandrang verursachen, so vermögen die brüchig gewordenen kleinen Gefäße diesem Andrange nicht zu widerstehen: es kommt zum Risse der Gefäßwand und zum Blutaustritte ins Gehirn. Solche ursächlichen Verhältnisse sind oft in erhöhter und gesteigerter Herzthätigkeit gelegen, wie diese in Verbindung mit Blutstockungen im Unterleibe bei hochgradig fettleibigen und blutreichen Personen, bei Wohllebern und Schlemmern häufig vorkommt. Seit alter Zeit gilt darum bei Aerzten und Laien eine gewisse gedrungene Körperfigur mit breiter Brust und Schultern, kurzem Halse, hervortretendem starken Bauche, geröthetem Gesichte als besonders geneigt zum Schlagflusse. In der That zeigt die Erfahrung, daß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_205.jpg&oldid=- (Version vom 31.3.2023)