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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

wieder, welche in weitester Gesichtsferne zu einem Gebirge aufsteigen. Dort unten, dort drüben, liegen auch Weiler und Dörfer, hier oben unterbricht höchstens eine kegelförmige, rohrgedeckte Fischerhütte die Ursprünglichkeit des großartigen, in seiner Wildheit und der augenblicklichen Beleuchtung und Bewegung unnennbar erhabenen Bildes.

Vom folgenden Tage an durchstreifen wir jagend und beobachtend ein wundervolles Gebiet. Die blauen Berge, vor und auf denen gestern während der Gewitternacht heller goldiger Sonnenschein lag, sind die Höhen der Fruschkagora, eines waldigen Mittelgebirges der köstlichsten Art. Graf Rudolf Chotek hat in der umsichtigsten Weise Alles zu würdigem Empfange unseres hohen Jagdherrn vor- und damit uns Allen unvergeßliche Tage bereitet.

Die Gegend, welche wir vom Dorfe Czerowitz tagtäglich durchstreifen, ist sehr anmuthig. In der Nähe des Dorfes breiten sich Felder aus; über diesen beginnt der Gürtel der Weinberge, welcher bis zu dem Waldsaume reicht; in den Thälern und Schluchten dazwischen blühen und duften jetzt zahllose Obstbäume, denen die ganze Gegend einen ungemein freundlichen Anblick verdankt, an den Hängen am Wege, welcher in der Regel den Thälern folgt, wuchert dichtes Gebüsch, und eine um so reichere Blüthenpracht erquickt das Auge, als es den Thälern auch an murmelnden Bächlein oder doch tropfenden Wässerlein nicht mangelt. Von den ersten Höhen aus bietet sich dem Auge ein überraschend schönes Bild der Landschaft. Unten im Vordergrunde baut sich das Dorf Czerowitz malerisch auf; dann folgt die breite Donau mit ihren Auwaldungen am anderen Ufer; hinter ihr und ihnen breitet sich, endlos erscheinend, die ungarische Tiefebene aus und zeigt dem Beschauer ihre Felder und Wiesen, Wälder und Sümpfe, Dörfer und Marktflecken in der unsicheren, wechselvollen und gerade deshalb so fesselnden Beleuchtung; nach Osten hin endlich haften die Blicke an der Feste Peterwardein.

Nach kurzer Wanderung schwinden Strom, Dörfer und Felder, und irgend eines der heimlichen Waldthäler des Gebirges nimmt uns auf. Steil fallen von beiden Seiten die Bergwände zu ihm ab, zwar nicht besonders hoher, aber dichter Wald deckt sie wie ihre Rücken und Grate. Eichen und Linden, Ulmen und Ahorne bilden auf weite Strecken hin, Rothbuchen und Hornbäume an anderen Stellen den Bestand, dichte niedere Gebüsche, in denen ein Nachtigallpaar neben dem anderen haust, umsäumen die Ränder. Nicht großartige Fernblicke lohnen den Wanderer, welcher die höchsten Rücken erklimmt und nach Norden hin Ungarn, im Süden Serbien vor sich liegen steht; aber heimliches Waldesdunkel umschmeichelt ihm Herz und Sinne. Von dem Hauptkamme, welcher höchstens bis zu neunhundert Meter unbedingter Höhe aufsteigen mag, zweigen sich in mehr oder weniger senkrechter Richtung nach beiden Seiten viele Ketten ab. Sie fallen zu Thälern ab oder umschließen Kessel, deren Wände bis jetzt noch Abfuhr gefällten Holzes verwehren und daher in urwüchsiger Waldespracht prangen. Riesenhafte, gerade aufgeschossene, bis zum weit ausgelegten Wipfel glattstämmige Buchen erheben sich aus moderndem Laube, in welches der Fuß des Jägers bis zu den Knieen einsinkt, knorrige Eichen recken ihre Wipfelzacken in die Luft, als ob sie alle Raubvögel einladen wollten, auf ihnen den Horst zu gründen; wölbige Linden bilden streckenweise ein so geschlossenes Blätterdach, daß der Sonnenstrahl nur als vielfach gebrochener Widerstrahl zum Boden herabzittert. Singdrossel und Amsel, Pirol und Rothkehlchen, Edelfink und Waldlaubvogel sind neben der allerorts angesessenen Nachtigall die Sänger dieses Waldes; der Kukuk ruft seinen Frühlingsgruß von Berg zu Berge, Schwarz- und Grünspecht, Kleiber und Meisen, Ringel- und Hohltaube lassen sich vernehmen

Unsere Jagden galten hier hauptsächlich dem größten europäischen Raubvogel, dem Kuttengeier, dessen nördlichste Brutgebietsgrenze die Fruschkagora zu bilden scheint. Ihm hatte sich neuerdings, wohl herbeigezogen durch die unglücklichen Opfer des Krieges in Serbien, der zweite große Geier Europas gesellt, und beide brüteten hier unter erklärtem Schutze des thierkundigen und thierfreundlichen Grundherrn.

Der Kuttengeier, dessen Verbreitungsgebiet nicht allein die drei südlichen Halbinseln Europas, sondern auch West- und Mittel-Asien bis Indien und China in sich begreift, ist Standvogel in der Fruschkagora, unternimmt aber nach der Brutzeit gern weitere Ausflüge, welche ihn regelmäßig bis in das nördliche Ungarn, nicht allzu selten auch bis Mähren, Böhmen und Schlesien führen. Gewaltige Flugwerkzeuge setzen ihn in den Stand, derartige Ausflüge ohne jegliche Beschwerde zu unternehmen. Nicht an Eier oder hilfsbedürftige Junge gekettet, erhebt er sich in den ersten Vormittagsstunden von dem Baume, welcher ihm Nachtruhe gewährte, steigt in Schraubenwindungen zu Höhen empor, in denen er dem unbewaffneten Menschenauge entschwindet, überschaut von hier aus mit seinem unvergleichlich scharfen, beweglichen, für verschiedene Entfernungen einstellbaren Auge überaus weite Flächen mit bewunderungswürdiger Sicherheit, erkennt selbst ein kleines Aas noch und läßt sich, sobald er solches entdeckte, aus der Höhe herab, um es zu verzehren und zu verdauen, mindestens vorläufig im Kropfe aufzuspeichern worauf er den Rückzug zur altgewohnten Stelle antritt oder seine ziellose Wanderung fortsetzt. Ebenso wie er das unter ihm liegende, vielleicht viele geographische Geviertmeilen umfassende, seinem Auge jedoch vollkommen erschlossene Gelände absucht, achtet er auch auf das Gebahren, zumal auf die Bewegungen anderer seiner Art oder großer aasfressender Raubvögel überhaupt, um aus deren Handlungen Vortheil zu ziehen. So nur erklärt sich das plötzliche und gleichzeitige Erscheinen mehrerer, selbst vieler Geier auf einem größeren Aase, und auch in solchen Gegenden, in denen sie nicht ansässig sind. Nicht ihr an und für sich stumpfer Geruch, sondern ihr Gesicht leitet sie bei ihren Raubzügen. Einer fliegt dem anderen nach, wenn er sieht, daß dieser eine Beute erspähete, und die Schnelligkeit seines Fluges ist so bedeutend, daß er in der Regel noch rechtzeitig beim Schmause eintreffen kann, wenn er sieht, daß der Entdecker der Beute, noch schwankend, über letzterer seine Kreise zieht. Zögern darf er freilich nicht, denn nicht umsonst heißt er, heißt jener Geier: die Gier seines Geschlechtes spottet jeder Beschreibung. Wenige Minuten genügen drei oder vier Geiern, um den Leichnam eines Hundes oder Schafes bis auf unerhebliche Reste in den Kröpfen zu bergen, die Mahlzeit verläuft also mit beinahe unbegreiflicher Schnelligkeit, und wer zu spät kommt, hat das Nachsehen.

Für die Geier der Fruschkagora bot die Umgegend übrigens auch außer einem Schmause an einem größeren Aase manches für Kropf und Magen erwünschte Thier, denn in den Verdauungswerkzeugen der von uns erlegten und zergliederten Geier fanden wir die Ueberreste von Zieseln und großen Eidechsen, welche von jenen schwerlich bereits verendet gesunden, vielmehr aller Wahrscheinlichkeit nach ergriffen und getödtet worden waren.

Entsprechend der nördlichen Lage der Fruchkagora und der geordneten für Geier also wenig günstigen Zustände des umliegenden Landes, saßen die Kuttengeier während unseres Aufenthaltes noch brütend auf den Eiern, wogegen die weiter unten im Süden hausenden Paare derselben Art unzweifelhaft bereits Junge haben mußten. Ihre Horste standen auf den höchsten Bäumen des Waldes, die meisten wohl im oberen Drittheil der Höhe der Bergwände. Viele waren Graf Chotek und dessen Jägerei wohl bekannt, weil sie seit mindestens zwanzig Jahren regelmäßig zur Brutstätte eines, vielleicht desselben Paares gedient, alljährlich nette Zufuhr an Baustoffen und daher eine gewaltige Ausdehnung erhalten hatten; andere schienen jüngeren Ursprungs, die einen wie die anderen aber von den Geiern selbst errichtet zu sein. In den ältesten und größten hätte sich wohl ein erwachsener Mann niederlegen können, ohne mit Kopf oder Füßen den Rand erheblich zu überragen.

Unter diesen Horsten saßen wir beobachtend und lauernd, das Leben und Weben des Waldes belauschend und die durch unsere Ankunft verscheuchten Geier erwartend, um ihnen einen sicheren Schrot- oder Kugelschuß beizubringen. Vier Tage nach einander zogen wir allmorgendlich in den herrlichen Wald hinaus, und an keinem Tage kehrten wir beutelos zum Strome zurück. Nicht weniger als acht große Geier, mehrere Adler und zahlreiches Kleingeflügel der verschiedensten Art fielen uns zu. Beute, und reichhaltige, uns Alle fesselnde Beobachtungen würzten und vergeistigten unsere Jagden. Wenn aber der letzte Sonnenstrahl verglomm, sammelte sich der jüngere Theil der Bewohnerschaft des Dorfes um unser Schiff. Geige und Dudelsack vereinten sich zu wundersamer, obschon höchst einfacher Weise, und Burschen und Mädchen schwangen sich, dem hohen Gaste zu Ehren, im volksthümlichen, ebenmäßig wogenden Reigen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 171. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_171.jpg&oldid=- (Version vom 16.3.2023)