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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Lucie erhielt einen verwunderten Blick von ihm, Hortense aber sagte, indem sie seinen Arm verschmähte und Luciens Hand ergriff: „Ich habe mir den Flüchtling wieder eingefangen. Wie geht es Großpapa?“

Am Fenster ihrer Wohnstube saß Frau Steuerräthin Adler und strickte. Es hatte sich nichts verändert in ihrer Umgebung, und sie selbst auch nicht; nur zufriedener sah sie aus, besonders wenn ihr Blick von einem jungen Mädchen zurückkehrte, das neben ihr emsig häkelnd Platz genommen. Es war eine volle robuste Gestalt, hatte flachsblonde schwere Zöpfe und einen Teint wie Centifolien, welche Farbe sich auch auf die großen runden Hände erstreckte, die verschiedene Ringe schmückten, breite silberne Reifen umspannten die keinesweges zarten Handgelenke, dazu trug das Mädchen eine Korallenbrosche und an ihr befestigt eine Uhrkette, annähernd so stark wie die Wagenketten ihres Vaters, des Herrn Gutsbesitzers Mähnert. Diese junge Dame, die übrigens ein paar blaue unendlich gute Augen besaß, weilte seit längerer Zeit zum Besuch bei der Frau Steuerräthin, „damit sie nicht so gar allein sei,“ denn Tante Dettchen war mit ihrem Neffen in sein Häuschen gezogen und führte ihm dort die Wirthschaft, so behaglich und bequem, wie nur sie es verstand.

Fräulein Selma Mähnert aber war schon lange von der Frau Steuerräthin geliebt worden, Frau Adler hatte schon, als der stattliche Backfisch eben aus der Pension zurückgekehrt war, zu der Mutter bei Gelegenheit eines Besuches auf dem eine Stunde von Hohenberg entfernten Gute mit der ihr eigenen Unverfrorenheit geäußert: „Das wäre eine Frau für Alfred!“ Und in Folge dieser Ansicht hatte sie Alles gethan, um sehr zart – denn zart muß man so etwas anfassen, war ihre Meinung – das Kind für Alfred und Alfred für das Kind zu interessiren, und hatte bei Letzterem auch die rührendste Bereitwilligkeit gefunden, während der Sohn ihr den „Affront“ anthat, nicht nur diese zarte Andeutung nicht zu verstehen, sondern sogar sich mit dieser Lucie Walter zu verloben, ohne daß die Mutter vorher im Stande gewesen war, ein Urtheil über die Wahl abzugeben oder eine Warnung zu erlassen.

Ja so etwas rächt sich immer!

Fräulein Selma, die übrigens bei der Verlobungsnachricht nicht in Ohnmacht gefallen war, aber sich doch etwas fern von der Tante Adler gehalten und verschiedentlich bei ihren Besorgungen in der Stadt das Haus der Frau Steuerräthin gemieden hatte, was gleichbedeutend war mit dem Verluste von einigen fetten Gänsen oder Puten, kehrte auf die Alarmnachricht wieder zurück in die mütterlich geöffneten Arme und hörte die Beschreibung dieser ganz pflichtvergessenen schrecklichen Person, die Lucie Walter hieß, mit Kopfschütteln und vielen: „Nein aber!“ und „Wie ist es möglich!“ an. Es war noch heute das Thema, welches mit immer gleichem Interesse behandelt wurde.

Wenn nur Alfred endlich einmal begreifen wollte, welch ein Kleinod ihm für dieses davongelaufene Hochmuthsnärrchen geboten wurde! Aber es war, als sei das große rosige Mädchen Luft für ihn – nicht gerade Luft, aber er hatte doch kaum einen Blick für sie und glaubte Alles gethan zu haben, wenn er höflich „Guten Tag!“ sagte. Er bemerkte absolut nicht, oder wollte nicht bemerken, daß ihre Hände ihm allerlei Lieblingsgerichte zubereiteten, die nach Aussage der Mutter tausendmal wohlschmeckender ausfielen, als sie selbst es verstand; daß sie ihm Morgenschuhe stickte und Strümpfe mit doppelten Hacken strickte.

„Er ist wie ein Blödsinniger in dieser Hinsicht,“ sagte ärgerlich die Mutter zu sich selbst. Auch das half nicht, daß sie, wenn er wirklich einmal Hut und Stock ablegte, um Kaffee mit ihnen zu trinken, sich von dem kleinen Dienstmädchen unter irgend einem Vorwande abrufen ließ, das dumme Geschöpf konnte dabei immer das alberne Lachen nicht lassen, während sie würdevoll fragte:

„Na, was giebt’s denn?“

Kam die Mutter nach einer halben Stunde wieder herein, so erblickten ihre Augen das Mädchen über der Häkelarbeit und ihn über einem Buche, oder gar einmal, wie er mit unbegreiflicher Beharrlichkeit aus dem Fenster sah, obgleich da wirklich nichts auf der Straße umherlief, was mit Selma hätte einen Vergleich aushalten können, besonders wenn man die fünfzigtausend Thaler in Betracht zog, die sie einstens erben würde.

Er mußte wirklich endlich einmal einen energischen Rippenpuff bekommen, das war beschlossene Sache, denn abgesehen von allem Anderen, ein Arzt ohne Frau – es ging ja gar nicht länger!

So saßen sie auch heute, tranken ihren Kaffee und erwogen die Frage, ob der Herr Doktor nicht kommen würde? Seit mehreren Tagen hatte er sich gar nicht sehen lassen; das kleine Dienstmädchen war schon in aller Morgenfrühe nach der Wasserstraße geschickt worden, um den Sohn zu bitten, heute mit vorzukommen, da die Frau Mutter „es im Halse habe“. Diese Kriegslist wurde öfter gebraucht und von seiner Seite mit unerschütterlichem Ernst aufgenommen. Er verschrieb jedesmal eine neue Auflösung zum Einpinseln oder ein flüchtiges Liniment für das Reißen, und wenn das Recept fertig dalag, hatte er selten noch Zeit länger zu bleiben.

Die Damen sprachen wieder über Lucie, und Fräulein Selma meinte eben: „Ja, sie muß schrecklich verzogen sein!“ Da kamen Schritte die Treppe hinauf und der peinlich Erwartete trat ein.

„Nun, mal wieder im Halse?“ sagte er freundlich, „Du mußt Dich mehr in Acht nehmen, Mutter, die Spaziergänge Abends solltest Du unterlassen, es ist hier zu feucht in unserer Gegend.“

„Ach, das ist’s wohl nicht, Alfred, Selma klagt auch. Selma, hole einen silbernen Löffel und laß Dir in den Hals sehen, mir kommt’s vor, als wäre dort ein wenig Belag.“

Das Mädchen ward noch rosiger, als sie für gewöhnlich schon aussah, brachte das Gewünschte und öffnete auf sein Verlangen den nicht gerade kleinen, aber mit einer prachtvollen Garnitur Zähne versehenen Mund.

„Alles in Ordnung!“ sagte er und legte den Löffel weg. „Gurgeln Sie ein wenig, weiter ist nichts nöthig.“

„Hast Du viel Kranke, Alfred?“ fragte die Mutter.

„Wenig.“

„Warum kommst Du denn so selten?“

„Ich bin seit ein paar Tagen nicht bei Dir gewesen? Richtig! Ich war verreist, zum Begräbniß der Frau Oberförster Remmert.“

„Na, das muß ich sagen!“ Die Mutter blickte erstaunt ihren Sohn an. „Es waren wohl viel Leute da?“

„Ich kam zu spät,“ erwiederte er, „außer dem Oberförster und seiner Kousine habe ich Niemand gesehen.“

„Was? Die Schwester von ihr war nicht einmal da?“ rief die Mutter. „Na, da siehst Du’s, Selma, so ist sie!“

„Wenn Du Fräulein Walter meinst, so war sie allerdings da, aber ich sah sie nicht, sie mochte wohl in der Kinderstube sein.“

„Alles Mögliche! Nun bleibt sie wohl und erzieht die Gören? Es ist wenigstens etwas Nützliches.“

Er stand lange am Fenster, das Gespräch war ihm peinlich. „Vermuthlich wohl, ich weiß es nicht,“ erwiederte er. Dann blieb er stumm; die Straße herunter rasselte ein Wagen, es war der Landauer des alten Herrn von Meerfeldt.

Er stützte sich plötzlich schwer auf das Fensterbrett. Dort im Fond, neben Frau von Löwen saß, ängstlich in die Ecke gepreßt, in tiefer Trauer – Lucie Walter; ihr Kreppschleier flog im Winde wie ein schwarzer Schatten über dem blassen Gesicht. Es war, als wollte sie ihre Augen zu den wohlbekannten Fenstern erheben, aber sie blieben gesenkt. Im nächsten Augenblick war das Gefährt vorüber gerollt.

„Nein, das ist ja schamlos!“ rief die Frau Steuerräthin empört. „Die Schwarze – Selma! Hast Du sie gesehen? Das war sie! Hierher zu kommen – nein, das ist mehr als erlaubt, das ist zu arg!“

„O Gott!“ flüsterte das Mädchen beistimmend.

In diesem Augenblick wandte sich ihnen ein tief erblaßtes Männergesicht zu.

„Ich muß Dich dringend bitten, Mutter,“ sagte er, „in meiner Gegenwart diese Kritiken zu unterlassen. Dir so wenig wie mir sind die Gründe bekannt, welche Fräulein Walter hierher führen.“

„Die Gründe? Na, ich will sie Dir aufzählen, wenn Du es wünschest. Nein, so gleich kann ich mich nicht fassen, nicht so stillschweigend das – das –“

„Ich bitte Dich, fasse Dich in meiner Abwesenheit, Mutter,“ unterbrach er sie und nahm seinen Hut. „Wenn ich wiederkomme, hat sich dieser Sturm hoffentlich gelegt.“

Er grüßte leicht und verließ das Zimmer.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_151.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)