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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Ein Karneval beim Dogen in Venedig.

„Venedig liegt nur noch im Land der Träume
Und wirft nur Schatten her aus alten Tagen …“

So seufzt mit Platen wohl Mancher, der voll Wehmuth die buntscheckige Armseligkeit des heutigen venezianischen Lebens mit seinem wunderbar herrlichen und großen Hintergrund vergleicht. Und doch, wie lebendig werden jene „Schatten“ dem, der sie zu beschwören versteht! Sie umgeben ihn bald auf Schritt und Tritt und lassen ihn nicht mehr los; denn überall steht ja leibhaft die Erinnerung an die große Glanzzeit, welche Venedig zu dem Ort machte, „wo alle Tage Festtag ist, Niemand an das Ende der Dinge denkt und wohin das Reich der Venus und des Amor verlegt werden sollte“, wie der große Epikuräer Aretino im 16. Jahrhundert mit voller Wahrheit sagen konnte.

Und nun – wohin ist die Pracht und Lebensfreude der „goldenen Muschel“ Venedig gekommen? Wohin sind die Gastmahle unter den strahlenden Bogenhallen, wie sie Paul Veronese nicht müde wurde zu malen, die Versammlungen von stolzen Männern und üppigen goldhaarigen Frauen, die sorglos, hoch über aller Noth des Lebens ihr fürstliches Dasein führen, an langen Tafeln voll Gold- und Krystallgeräth sitzen und sich belustigen über die Negerknaben, Pfauen und Wachtelhündchen, die zwischendurch ihr Spiel treiben? Erstorben ist das Alles und vergangen mit dem Glanze der Republik, der ihre höchste Macht wohl noch um ein Jahrhundert überdauerte, aber dann dahinging, wie Alles, was das Recht seiner Existenz nicht mehr in sich selbst trägt.

Der Schauplatz ihrer Größe aber steht unverändert: aus den Wassern heraus wachsen die Paläste mit den prächtigen Façaden, langsam gleitet die Gondel dazwischen hin, und der Klang ihrer stolzen Namen trägt einen Hauch ferner Vergangenheit herüber, trotz Verfall und Schmutz und bretterverschlagener Fenster!

Wie aber steigt vollends diese Vergangenheit voll und groß herauf in der lauen Frühlingsnacht, wenn das Straßengeschrei verhallt ist, die Laternen auf dem Markusplatz verloschen, die Fremden in ihre Hôtels gegangen sind und nun der Mond allein hoch oben am blauen Himmel schwebt! Sein Zauberlicht übergießt die gestorbene Meereskönigin mit phantastischem Leben, es glänzen die Säulen aus dem Dunkel der Gänge heraus, geheimnißvoll wachsen und ranken die Knäufe und Rosetten im Dämmerschein und das Goldmosaik der Markusfront leuchtet in bleichem Glanze. Droben auf dem Uhrthurm heben dann die beiden Erzriesen die Arme und ihr mitternächtiger Hammerschlag dröhnt über Stadt und Lagune hin.

Das ist die Stunde, wo die Schatten zum Leben erwachen, und wer Augen dafür hat, sieht sie nun in Scharen heranströmen, die einstigen Bewohner der tausendjährigen Märchenstadt, und den Plan erfüllen. In der goldschimmernden Dämmerung des Markusdomes regt es sich von byzantinischen Gestalten, am Hochaltar kniet der Doge Orseolo und neben ihm der dritte Otto, der gekommen ist, die Hilfe des mächtigen Lagunen-Beherrschers zur Stütze seiner sinkenden Kaisermacht zu begehren. Draußen aber, von der Markussäule her kommen wieder Andere heran im Reiterzug, aus dessen Mitte ein zweiter kaiserlicher Held hervorragt, mit wallendem rothen Bart. Aber er reitet an der Seite eines eben so Stolzen, der die dreifache Krone trägt und gnädig herablassend das Haupt bewegt. Nun sind sie angelangt, der Kaiser springt vom Pferd und nähert sich zögernd, heißen Ingrimm im Blick, dem priesterlichen Zelter, um den Steigbügel für den Sammetpantoffel zu halten … Aber sobald sie den Boden berührt, zerfließen die beiden Gestalten und Andere drängen aus der Tiefe des Platzes nach, ein bunter Zug von Schild- und Lanzenträgern, Dienern und Trabanten, stolze Patricier mit spitzen Bärten, in pelzverbrämten Sammetkleidern und Mänteln, zwischen ihnen in der goldenen Sänfte an der Seite des Dogen ein junges Weib mit goldrothen Haaren und braunen Sammetaugen, Catarina Cornaro, die sich einschiffen soll, um der Insel Cypern und dem fernen Gemahl zuzusteuern … schon sind sie an den Wasserstufen angelangt, da wird es auch lebendig auf dem Meer: hohe Kriegsgaleeren erscheinen mit goldenen Fabelthieren am Bug und flatternden Wimpeln; auf ihrem Deck stehen die Seehelden der Republik, die Dandolo, Foscari, Contarini, Ventramin, Morosini; sie kehren heim vom Türkenkrieg und der Eroberung der griechischen Inseln, die üppige Wasserrose Venedig dehnt ihre Wurzeln durch das ganze Mittelmeer, und immer mehr Reichthum, Macht und Glanz fällt ihren glücklichen Bürgern in den Schoß. Den Bürgern? Nein, den großen Geschlechtern, die im goldenen Buch stehen, aus ihrer Mitte den Dogen wählen und mit scharfer Ruthe das niedere und arme Volk regieren. Für sie liefert Indien Perlen, Gewürze und Goldsand, ihnen schwimmen die Schiffe auf allen Meeren und kehren hochbefrachtet heim, die kostbare Ladung in den weitläufigen Magazinen zu bergen, welche den Unterstock ihrer Paläste ausfüllen; sie begehren den ungezügelten Lebensgenuß, die schöne Sinnlichkeit in jeder Gestalt.

Wehe dem, der ihre Herrschaft anzutasten wagt! Was seiner wartet, das könnten die Schatten erzählen, die in den tiefen Gängen des Dogen- Palastes auf- und niederschweben, den Platz auf der Riesentreppe umdrängen, wo des alten Marino Falieri Kopf fiel, mit den Mondesstrahlen über die Seufzerbrücke gleiten und hinabtauchen zu den schrecklichen Kerkern, die nur einen Ausweg hatten: den schwarzen Kanal, der am Ende des Ganges fließt und ins Meer hinaus trägt, was man in seine Wasser versenkt …

Aber nicht nur bleiche und blutige Schatten gehen im Dogenpalast um. Wenn der Morgen kommt und breite Ströme Sonnenlicht durch die goldglänzenden Säle ergießt, dann werden andere Gestalten lebendig: auf der großen Prachttreppe schreiten die Rathsherren der Republik, die schweren Thürflügel öffnen sich, wie sonst, und unverändert sehen ihnen die alten Räume entgegen.

Hier steht die Zeit still und die Vergangenheit wird unmittelbare Gegenwart. Als wäre gestern die letzte Rathssitzung gewesen, so sind die geschnitzten Tische und Stühle geordnet; von den Wänden glänzen die wunderbaren Tizians und Veroneses, ein Hauch unmittelbaren Lebens erfüllt die prächtigen Räume, welche jeden Augenblick auf den Wiedereintritt ihrer alten Gebieter zu harren scheinen. Wer aber dort im Hintergrund des Saales allein und träumend sitzt und in das goldene Halbdunkel starrt, der wird sie bald genug daraus auftauchen sehen.

So ist es ohne Zweifel auch dem Maler unseres schönen Bildes gegangen – dem der Zauber Venedigs längst die Seele gefangen nahm und zu gestalten zwang, was er geschaut. Er saß wohl wieder einmal träumend im Dogenpalast, als plötzlich helles Kastagnettengeklapper, Fiedelklang und jauchzendes Gelächter vom Platze herauf an sein Ohr schlugen. Karneval in Venedig – Inbegriff närrischer Lustbarkeit und kindisch-toller, entzückender Späße! Wer, außer den Aeltesten und Kränksten, vermöchte zu Hause zu bleiben, wenn das Glockenzeichen ertönt und Alles, was Leben, Beine und einen bunten Fetzen zum Umhängen hat, nach dem Markusplatze strömt! Dort wogt es bereits in dichten Reihen auf und ab: türkische Kopfbunde, Sammtmasken, große Nasen und Perücken, Salatblätter und Strohwische, Alles ist gut zur „maschera“, welche dem leichtblütigen Volk nur den Vorwand zu lärmender Tollheit liefert. Vergessen ist alle Vorsicht, vergessen sind die geheimen Späher, die überall sich durch die Gruppen der Masken winden und morgen im geheimsten Zimmer des Palastes Bericht erstatten werden von jedem unbedachten Wort – wer wird sich um morgen kümmern! Heute ist Karneval, heute gilt es, sein Leben zu genießen! Und immer dichter wird die Menge, die sich mit tollem Gelächter auf dem Markusplatze dreht.

Einer ist davon ausgeschlossen: der würdevolle Greis im Goldgewand mit der spitzen Herzogsmütze auf dem Haupte, dessen Leben im Palast nach strengen Regeln verläuft und eine fortgesetzte Repräsentation zu sein scheint.

Aber wenn der Doge nicht zum Karneval kommt, so kommt der Karneval zum Dogen: um die Mittagszeit eilt er auf vielen flinken Füßen die große Treppe empor und steht dann mit gesenkten Blicken und verhaltenem Lachen am Saaleingang, um zu fragen, ob der durchlauchtigste Doge wohl geruhen würde, eine kleine Pantomime in seinen Gemächern anzusehen? Und der Doge, ein leutseliger, herablassender Herr, klopft lächelnd der kleinen schwarzäugigen Sprecherin die Wange und meint, sie sollten nur Nachmittags kommen.

Die Vorbereitungen sind schnell gemacht: mit ein paar Vorhängen zwischen den offenen Säulen ist die einfache Bühne improvisirt für die Komödie, die trotz ihrer erstaunlichen und unveränderlichen Einfachheit immer von Neuem das Volksgemüth entzückt. Wir befinden uns der Schlußkatastrophe gegenüber: Arlechino, der im Verlaufe der früheren Scenen schon zwei- bis dreimal den Hals gebrochen haben müßte, befindet sich dessen ungeachtet frisch und gesund genug, um der geliebten Colombine Herz und Hand anzutragen, und sie, die gluthäugige Schöne, deren zierlich-üppige Gestalt in der Bewegung stets neue Reize entfaltet, tanzt ihm die Erwiederung seiner heißesten Wünsche zu. Sie beachtet nicht im Geringsten die Einsprache des zu Boden gestolperten Pantaleone, welchen sein altes Schicksal: alle in der Luft herufmfahrenden Prügel auf seinem einzigen Rücken zu vereinigen, heute schon wieder sattsam ereilt hat. Deutet der Stock in des herbeieilenden Doktor Bartolo’s Hand auf eine neue, letzte Züchtigung oder ist er für Arlechino bestimmt, der im kritischen Moment die Entrüstung des Vormunds durch eine ungeahnte geniale Erfindung besänftigen wird?

Der Eindruck auf das vornehme Publikum ist kein so überwältigender, wie ihn die Schauspieler von der Piazza her gewohnt sind. Zwar der durchlauchtigste Doge lächelt mit beifälliger Kennermiene nach der reizenden Julietta hin, und auch der junge Page, welcher, die goldbrokatene Schleppe auf dem Schoß, hinter ihm sitzt, betrachtet mit ungetheilter Aufmerksamkeit die interessanten Wechselfälle des Stückes, aber die fürstliche Frau zur Linken des Dogen scheint kein großes Gefallen daran zu finden, sie wendet das holdselige Angesicht, um den leisen Flüsterworten zu lauschen, die hinter der Sammtmaske eines Tiefverhüllten heraus in ihr Ohr dringen. Ist es die junge Gemahlin des alten Mannes, die hier ahnungslos und lächelnd den Beginn der süßen Gluth im Herzen schürt, die später zu so unheilvollem Brande sich entfacht, um endlich mit Blut und Thränen gelöscht zu werden? Der Ring an ihrem Finger scheint bedeutungsvoll, nicht minder der höhnisch-eifersüchtige Blick der dunklen Schönen auf der linken Seite, die sich vorbeugt, stärker als die Sitte es erlaubt, um ein Wort des leisen Gesprächs aufzufangen.

Sie kann es unbemerkt, denn die Eminenz an ihrer Seite, der päpstliche Legat, welcher gekommen ist, die Hilfe Venedigs für den bedrängten Nachfolger des heiligen Petrus anzurufen, sieht zwar mißbilligend von geistlicher Höhe auf das weltliche Schauspiel, wie seine fast in Entrüstung gekreuzten Arme und der streng zusammengezogene Mund andeuten, aber die Augen haften dabei doch merkwürdig fest auf den glänzenden Schultern der Tänzerin und ihren schlanken, beweglichen Armen. Noch ein anderes Augenpaar außer dem seinigen verschlingt jede ihrer Bewegungen: ein schwarzhaariger junger Nobile, Verwandter des Dogen, lehnt an der Säule und drückt seine heiße Wange dagegen, unverwandt die flinke Tänzerin betrachtend. Ihm erscheint ihre kecke Grazie viel anziehender, als die höfische Grandezza der Damen im Dogenpalast, und es ist zu vermuthen, daß er heute Abend einen Vorwand finden wird, um dem Dienst am Spieltisch zu entrinnen, nach der Giudecca zu eilen und dem schönen Fischerkind seine besondere Anerkennung unter vier Augen auszusprechen!

Der Patriciersohn sieht nach der Tochter des Volkes, aber wie heiß, wie verloren in Anbetung schmachten dafür die Augen des kleinen plebejischen Geigenspielers nach der schönen Fürstin hin! Wie verschlingt er mit den

Blicken das goldröthliche, blumendurchflochtene Gelock, das rosige Gesicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_107.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)