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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Blick auf das Wendelsteinhaus.

auf der einladenden Holzbank vor dem Hause zu rasten und einen frischen Trunk sich zu vergönnen. Die Rundschau, die sich hier schon eröffnet, messen wir nur mit flüchtigem Blick; ist doch oben auf dem Gipfel Alles noch weit schöner! Und den steilen Weg von Bayrisch-Zell herauf kriecht eine lange Karawane von Menschen, ameisengleich. Es wäre doch hübscher, allein oben zu sein! Also machen wir uns rasch wieder auf den Weg. Ein paar große Felsstufen geht es noch hinan; dann scheint’s, als sei der Weiterweg vermauert. Massig und drohend hängt eine finstere Felsenwand über uns. Aber noch ein paar Schritte weiter, und wir sehen, daß diese Wand gespalten ist. Eine feuchte dunkle Kluft gähnt uns entgegen, der Zugang zum „Stangensteig“. Dieser Stangensteig ist ein schmaler, oft nur handbreiter Weg, an dessen Seite in die graue Kalkwand daumendicke Eisenstifte eingelassen sind, um ein Geländer aus Eisenstangen und Drahtseil zu tragen. Das Geländer ist aber nur an der einen Seite des Steigs, da, wo die Wand aufwärts steigt. An der anderen Seite stürzt die Wand in eine gräuliche Tiefe fast lothrecht ab. Mancher Wendelsteinwanderer kehrt hier, von panischem Grausen erfaßt, dem lustigen Steige den Rücken und verzichtet auf den Rest. Uebrigens ist der Steig bei der Anwendung des geringsten Maßes menschlicher Vorsicht ganz gefahrlos, und nur wer stark am Schwindel leidet, wird ihn ungemüthlich finden. Selbst wenn sich etwa zwei Reisegesellschaften hier begegnen, kann man sich in heiterer Laune an einander vorbeidrücken. Für ein paar Todfeinde, die sich hier träfen, wäre der Moment allerdings kritisch.

Auf dem Gipfel des Wendelstein.

Um den Fels und steil aufwärts windet sich der Stangensteig zum luftigen Grat und auf diesem zum Gipfel, kaum eine Viertelstunde über dem Wendelsteinhause. Der Gipfel selber ist ein gewölbter, von Westen nach Osten entlang ziehender Felsrücken. An seiner höchsten Stelle trägt er ein Kreuz und eine kleine Kapelle, Beides mit starken Drähten und Eisenklammern am Felsgrund befestigt. Hier stehen wir, 1849 Meter oder 6335 bayerische Fuß über der Meeresfläche. Wer hier sich niederläßt in das niedrige, braune, harzduftende Gesträuch, das den Felsgrat stellenweise deckt; wer im Sonnenschein hier Rundschau hält, der begreift es leicht, warum der Berg im Volksmund lebt, wie wenig andere. Schroff und nach unten zu immer schroffer senkt sich die Nordwand vom Gipfel hinunter in die Tiefe, über und über von schwarzem Krummholz bewachsen. Weit unten erst kommt wieder Boden zum Vorschein: finstere, dickbewaldete Thalkessel, durch welche der Jenbach ins Flachland hinausdrängt. Blitzend und breit zeigt sich im Nordosten zwischen Wäldern und Feldern und unzähligen Ortschaften der Innstrom; jenseit desselben funkelt der mächtige Spiegel des Chiemsees. Aber noch weit, weit nördlich fährt der Blick über die Ebene hin, die fast endlos sich dahinstreckt, eine von grünem fröhlichen Leben erfüllte Landkarte. Immer feiner und duftiger wird’s nach dem Horizonte zu; nur ein scharfes Auge erkennt fern im Nordosten die blauen Gipfel des Böhmerwaldes und im Nordwesten, schimmernd wie ein Märchen, die Thürme und Häusermassen von München.

So reich und großartig das Bild nach dem Flachlande zu ist: unendlich größer ist es nach dem Süden. Da fesselt den Blick zunächst das wilde Gesicht unseres Berges selbst. Mit zerrissenen Felsköpfen stürzt er in die ungeheure Tiefe von Bayrisch-Zell ab. Und gegenüber, jenseit des grünen Leitzachthales baut sich’s empor, gigantisch und unabsehbar, Berg über Berg. Hinter den grünen Waldgehängen und Gipfeln der Voralpen steigen höher und höher schartige, weißgraue Kalkschroffen empor, alle überragt von der weißen blinkenden Kette der Centralalpen. Deutlich sieht man aus den Firnfeldern der Tauern und des Zillerthaler Kammes die breiten Gletscher niedersteigen mit ihren blauen Schründen; deutlich erkennt man die tiefe Einsenkung des Brenners und weiter nach Westen hin die stolzen Gipfel der Stubayer und Oetzthaler Eiswelt. Ob aber die fernsten, hinter den westlichen Hochkalkalpen auftauchenden Spitzen schon den Graubündener Alpen angehören, kann der spähende Blick nicht mehr unterscheiden.

Von der Schweizer Grenze bis zum Böhmerwald, und von dem stolzen Markstein Kärnthens, dem Großglockner, bis nach Schwaben hinein mit einem Blick zu schauen – es ist wohl des Steigens werth! Und ringsum strahlende Schönheit und unverwüstliche Felsengestalten! Wie winzig ist der Bahnzug in der Tiefe, und wie langsam kriecht er auf seinem eisernen Wege dahin! Jetzt fährt er über die Innbrücke und in den Bahnhof zu Rosenheim; aber sein gellendes Pfeifen dringt nicht bis herauf. Dafür schallt von dem Nachbargipfel der Soienspitze ein Jauchzer herüber, frisch und schneidig wie der Bergwind. Das ist die Sennin von der Soienalp, die drüben auf den im schrägen Sonnenlichte funkelnden Felsen steht und ihren Morgengruß herüberschickt nach dem geliebten Wendelstein.




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_092.jpg&oldid=- (Version vom 13.2.2023)