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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

komplicirte Bewegungen im Innern werden auf diese Weise zu Stande gebracht, gewisse Eindrücke von außen gelangen zum Gehirn, gewisse Gehirntheile kombiniren Gedanken, Bilder, kurz in sämmtlichen Organen finden örtliche Bethätigungen statt, und doch – das Individuum schläft.

Das Bedürfniß nach Schlaf pflegt sich im Verlauf eines gewissen Zeitraums bei Jedem einzustellen; nach Schlaf sehnt sich Jeder, der des Tages Last und Mühe getragen, sowie sich der nach dem ewigen Schlafe sehnt, der alt, krank, arm, verfolgt und lebenssatt. Ohne Schlaf kann der Mensch eben so wenig sein Dasein erhalten, wie ohne Nahrung. Während im Wachen das geistige Leben vorherrscht, ruht es mehr oder weniger vollkommen im Schlaf; es waltet während dessen das vegetative vor: Verdauung, Blutumlauf, Athmung, Wärme-Entwickelung, Ernährung, Absonderung, kurz alle Lebensverrichtungen, durch welche der Stoffwechsel bewirkt wird. Die Empfindung und willkürliche Bewegung, die Sinnesorgane, die im Wachen in vollständiger Aktion sind und die Seelenthätigkeit anhaltend erregen, entziehen dem Körper Kräfte und Stoffe, die sich nicht allein durch Speise und Trank ersetzen lassen. Ein Ersatzmittel, einzig in seiner Art, hat uns die Natur durch den Schlaf verliehen. In ihm hören Empfindungen und willkürliche Bewegungen auf; die Sinne und die Seelenthätigkeit verharren mehr oder weniger in Ruhe, und der Mensch scheint, so lange der Schlaf dauert, gewissermaßen aufgehört zu haben, Mensch zu sein.

„Ich lade dich, des Todes Bruder, ein,
Geliebter Schlaf, komm über mich zu schweben!
Süß ist es, so zu leben ohne Leben,
Süß, ohne Tod so todt zu sein!“[WS 1]

Der Schlaf ist das einzige Geschenk, das uns die Gottheit ohne Arbeit gab, dessen Werth jedoch durch Arbeit vielfach erhöht wird.

Und wer sollte den erquickenden Schlaf nicht lieben, diesen wohlthätigen, lebensverlängernden Stillstand, der unsere Lebensuhr täglich ordnet und regelt? Die erste Frage an einen Unglücklichen oder Kranken, ja selbst an den Gesunden sollte daher sein: „Wie haben Sie geschlafen?“ Auch Sterne hat ein herrliches Lobkapitel über den Schlaf geschrieben[WS 2]; Shakespeare im „Macbeth“ preist mit markigen Worten des Schlafes Wohlthat und schildert die Qualen der Entbehrung:

„Schlaf nicht Nachts noch Tags erfreu’
Seines Auglids schwere Wucht,
Leben soll er wie verflucht,
Müde Wochen neun mal neun
Schwind’ er, siech’ er, leid’ er Pein!“[WS 3]

Aber Sancho Pansa’s Ausruf enthält das allergrößte Lob: „Gott ehre mir den Mann, der die hübsche Sache erfunden hat, die man Schlaf nennt.“

Bildet somit der Schlaf eine Erquickung für den ermüdeten Geist und den erschlafften Körper, ein wahres Bedürfniß für die Erhaltung und Kräftigung der geistigen und körperlichen Verrichtungen, das durch nichts Anderes ersetzt werden kann, so steht die Zeitdauer des Schlafs in den verschiedenen Perioden und unter verschiedenen Umständen des Lebens mit diesem Bedürfniß nach Kräftigung im innigen Zusammenhang: der Säugling schläft und trinkt; das Kind bringt mehr als die Hälfte des Lebens mit Schlafen zu; eben so viel schläft der Rekonvalescent; der Erwachsene bedarf kaum den dritten Theil seiner Zeit zum Schlaf. Eine allgemeine Regel über die Zeitdauer des Schlafes läßt sich füglich nicht geben. Alter, Temperament, Konstitution, vor Allem Gewohnheit, Lebensweise und Beschäftigung des Einzelnen haben eben hier einen großen Einfluß und gebieten erhebliche Abweichungen. Anstrengungen des Körpers und insbesondere des Geistes erfordern eine längere Dauer des Schlafes. Aus einer Reihe von Thatsachen wird unzweifelhaft erwiesen, daß die Wiederherstellung der Kräfte im Muskelsystem weit rascher von Statten geht, als in den Nerven. Hierauf beruht der Unterschied, welcher zwischen dem Schlaf Derjenigen obzuwalten scheint, welche vorzugsweise entweder nur mit dem Körper oder mit dem Geiste arbeiten, da Erstere, namentlich Landleute, Schiffer, nach dem Zeugniß der Erfahrung sich bei kurzer Nachtruhe wohl befinden, während Gelehrte im Allgemeinen eines längeren Schlafes bedürfen, wenn sie ihre geistige Frische bewahren wollen. Die ermatteten Muskeln des Arbeiters bedürfen zwar der Ruhe; da aber dieser weniger denkt und empfindet, so wird er durch Wachen auch weniger aufgebraucht als die feinere und – verfeinerte Welt, welche Denk-, Phantasie- und Nervenkraft weit mehr in Mitwirkung setzt.

Der Schlaf erfolgt meist nicht plötzlich als Gegensatz des Wachens, sondern es geht ihm das Gefühl der Schläfrigkeit voran. Durch diese wird erst das Individuum allmählich geistig isolirt. Nicht alle Empfindungsnerven schlafen gleichzeitig ein, auch schlafen nicht alle gleich tief, und eben so erwachen sie auch nicht alle zu gleicher Zeit; die Geschmacks-, Geruchs- und Sehnerven schlafen früher ein, als die Gehörnerven. Auch die Bewegungsnerven schlafen nicht alle gleichzeitig ein; zuerst erschlaffen die Muskeln des Nackens, woher die Senkung des Kopfes, der vermöge seiner Schwere nach der Brust sich neigt; dann erst folgen die Muskeln der Extremitäten. Das Centrum des Nervensystems, das große Gehirn, schläft viel später ein, als die Sinnesnerven. Alle diese Zustände machen es auch erklärlich, weßhalb die Träume am häufigsten zu Anfang und zu Ende des Schlafes erscheinen.

Auch bezüglich der Aufeinanderfolge der Vorgänge beim Einschlafen bewährt sich eine sehr bemerkenswerthe Uebereinstimmung mit den Erscheinungen des Todes. „Mehr Licht!“ rief Goethe im Sterben. Die noch vorhandene Seelenthätigkeit empfand den Nachlaß der Sehkraft.

Der Schlaf ist eine der wichtigsten und wesentlichsten Bedingungen und Anforderungen gerade an unsere Zeit, die sich durch den Reichthum auf materiellem und geistigem Gebiet auszeichnet und bei ihrer einseitigen Uebertreibung geistiger wie mechanischer Arbeit, bei ihrer Ueberstürzung, ihrem raschen Verbrauch der Kräfte in einer Verarmung der Nervenkraft sich geltend macht. Die massenhafte Konkurrenz in ihrem rastlosen Jagen nach materiellem und geistigem Besitz, die Ueberproduktion, die Spekulation, die immer größere Anstrengungen macht, damit nicht der Reiche hinter dem Reicheren, der Schwächere hinter dem Stärkeren, der Unternehmende hinter dem Spekulativeren zurückbleibe, dieses Ringen und Kämpfen auf allen Gebieten, diese übertriebene Zumuthung an die menschliche Leistungsfähigkeit, vor Allem aber diese ruhe- und rücksichtslose Ausnützung ihrer Kraft, diese Anspannung meist ohne Muße zu behaglichem Beschauen des Erworbenen muß überall in hohem Grade aufreibend auf die Betheiligten wirken, so daß ein gesunder Schlaf gerade für unsere gegenwärtige Generation als eines der werthvollsten und unentbehrlichsten Ersatzmittel für den massenhaften Verbrauch der Kräfte erscheint.

Daß diesen naturgemäßen Anforderungen gerade das gegenwärtige Zeitalter nicht allenthalben genügt, dürfte dem aufmerksamen Beobachter, er möge die Lebensordnung gewisser Arbeiter oder die geistigen Anstrengungen so mancher Gebildeten in Betracht ziehen, nicht entgehen. Vielleicht genügen diese Bemerkungen, damit Einzelne passende Verhaltungsregeln herausfinden.

Vor Allem aber glaube ich mich in Einklang zu finden mit dem Urtheil erfahrener Aerzte, wenn ich das Verhalten unserer Jugend in dieser Beziehung im Allgemeinen nicht als naturgemäß erachte und auf die erheblichen Gefahren hinweise, welche der heranwachsenden Generation bei den gesteigerten Anforderungen des Unterrichts für geistige und körperliche Ausbildung drohen. Das Gesetz bestimmt, daß der Unterricht im Sommerhalbjahr um 7 Uhr beginnt. Daß aber gerade zu dieser Jahreszeit die Fülle von Licht und Wärme Abends ein zeitiges Einschlafen der Kinder oft nicht ermöglicht, wird Jeder zugestehen, der dem Gegenstand näher getreten ist. Ich kann aus eigener Beobachtung von einer gewissen Erschlaffung, Mattigkeit, Erschöpfung berichten, die ich zu dieser Zeit unzweifelhaft als die Folge der großen Einschränkung des Schlafes an den Kindern beobachtet, Erscheinungen, die so oft die Vörläufer schwerer Erkrankungen bilden, und ich habe gewiß alle diejenigen Mütter auf meiner Seite, welche erkennen, wie schwer und hart die Pflicht ist, die Kinder vorzeitig wach zu rufen. Erzieher, die solche Anforderungen stellen, haben eingewendet, daß durch frühzeitigen Beginn der Schule der Unterricht auf die kühlere Tageszeit verschoben werde. Dies trifft nur zum Theil zu, da an heißen Tagen bekanntlich der Nachmittagsunterricht ganz in Wegfall kommt. Ich meinestheils bin von diesem Uebelstand und dessen praktischer Bedeutung für das Befinden unserer Jugend so fest überzeugt, daß ich Dispensationen von der ersten Stunde des Unterrichts, soweit sie irgend mit den Anforderungen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. An den Schlaf von Johann Christoph Friedrich Haug (Sinngedichte, 1791). Die abgewandelte Form der ersten Zeile findet sich in einer Besprechung (ALZ, 1792, Bd. 4, Sp. 656). Vgl. Mörikes Gedicht an den Schlaf und seine Vorläufer, in: Reinhold Köhler: Kleinere Schriften, Bd. 3, Berlin 1900, S. 203–212 Internet Archive
  2. Tristram Shandy, 101. Kapitel
  3. Macbeth I, 3
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_075.jpg&oldid=- (Version vom 2.2.2023)