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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

„Wie wir uns stehen, Hortense und ich?“

„Nein, es spricht gegen meine Ansichten; aber darüber brauchen wir nicht mehr zu streiten, wir sind so einig – nicht wahr?“

Er hatte ihre Hände ergriffen und suchte ängstlich nach ihren Augen, aber sie sah den ehrlichen treuen Blick nicht, denn sie wandte das Gesicht.

„Mir ist nicht wohl heute Abend,“ flüsterte sie, „ich habe Kopfschmerzen. Gute Nacht, Alfred!“

„Gute Nacht!“ sagte er – es klang wie enttäuscht.

Sie ging langsam über den dunklen Flur in ihr eigenes Kämmerchen und riegelte die Thür hinter sich zu. Dann warf sie sich auf das Bett und fing leidenschaftlich an zu weinen. Trostlos öde sah es in ihrem jungen Herzen aus! Er hatte ihr nicht einmal gedankt, daß sie bei ihm bleiben wollte; er hatte einfach gesagt, er würde seine Erlaubniß verweigert haben. – War sie denn schon „angeschmiedet“? „Ach, Hortense hat Recht, er ist ein Egoist, ein Egoist!“

Nach und nach ward sie ruhiger; es kamen bessere Gedanken. Das kleine Haus; das Plätzchen am Fenster; das Glück, das mit ihnen über die Schwelle ziehen würde – noch einmal leuchtete die zage mädchenhafte Zuneigung für ihn im alten goldenen Sonnenlichte auf. Sie saß hoch auf dem Bettrande und richtete im Geiste sein Zimmer ein; so kahl, so häßlich durfte es nicht bleiben – des Vaters Stube, wie freundlich hatte sie ausgesehen! Daneben mußte das ihrige liegen, und auf beiden Seiten der Hausthür sollten Kletterrosen gepflanzt werden. Sie sprang empor, sie hatte auf einmal eine heiße Sehnsucht, ihm freundlich „Gute Nacht!“ zu sagen.

Sie schlüpfte hinaus und drückte scheu auf die Klinke seiner Stubenthür. Lampenlicht floß ihr entgegen; er saß und schrieb und blickte nicht auf.

„Alfred!“

„Ja! Entschuldige mich, Kind – hat’s nicht Zeit bis morgen früh?“

Sie zog die Thür wieder ins Schloß und kehrte in ihr Zimmerchen zurück. Sie stellte sich an das offene Fenster und schaute hinaus in die schweigende Ruhe der Gärten. Der Westwind trug ihr als einzigen Laut das Pfeifen einer Lokomotive und das verhallende Rasseln und Rollen der Wagenreihe zu; der Schnellzug flog an dem kleinen Städtchen vorüber in die Welt, in die schöne Welt hinaus.

Ach, wer da mitreisen könnte! – Es war hier Alles so anders, wie sie gedacht, so – kahl, so öde, so nüchtern!

Wenn Hortense allein fortginge! Es fuhr ihr schreckhaft durchs Herz – sie liefe ihr nach, ja gewiß, sie liefe ihr nach! Ohne Hortense mochte sie nicht mehr leben.

Und jede einzelne Stunde, die sie da drüben zugebracht, zog an ihr vorüber, von dem grausen Anfang bis heute. Es ist doch sonderbar, daß man Jemand so lieb haben kann, den man vor Wochen kaum noch gekannt, der so das vollkommene Gegentheil von Einem selbst ist! Hortense hatte sie aus ihrem gedankenlosen Dahinleben aufgerüttelt, Hortense hatte ihre unbestimmte, schlummernde Sehnsucht nach dem Schönen des Lebens geweckt; sie hatte eine Ahnung bekommen, was das Leben sein kann.

Sie schloß die Vorhänge, zündete ein Licht an, holte ihre kleine Briefmappe aus der Kommode und schrieb an ihre Schwester:

 „Liebe Mathilde!

Verzeihe nur, wenn ich so lange nichts von mir hören ließ; ich hatte wenig Zeit; meine Schwiegermutter wirthschaftet tüchtig mit mir herum, und Nachmittags muß ich Besuche mit ihr machen; in meiner freien Zeit aber bin ich bei Hortense. Liebe Mathilde, wenn sie nicht wäre – ich würde vor Sehnsucht nach Dir und den Kindern sterben! Alfred ist –“

Hier brach sie jäh ab; sie erinnerte sich schreckhaft, daß sie ihrer Schwiegermutter nicht „gute Nacht“ gesagt. Eilig schloß sie die Mappe in den Schubkasten und ging, die alte Dame aufzusuchen. Aus Alfred’s Thür fiel ein schmaler Lichtstreif auf den dunklen Flur, und die scharfe Stimme der Mutter drang in ihr Ohr:

„Du bist zwar groß geworden, Alfred, aber nimm es mir nicht übel, doch noch derselbe –“ sie stockte.

„Dumme Junge!“ ergänzte er, „das wolltest Du doch sagen? Du kannst Recht haben.“

„Ich habe Dich genug gewarnt, aber wer nicht hören wollte, warst Du! Und daß Du nicht einmal das Herz hast, zu sagen: ‚Diese Lauferei zu der Löwen hat jetzt ein Ende, Punktum!‘ das – das – –“

„Ist eine Schwäche von mir? Da hast Du wieder Recht,“ scholl seine Stimme in dem Augenblick, als Lucie ihre Thür wieder zumachte.

Sie stand mit fest auf einander gepreßten Lippen in dem kleinen Raum, die Hände zur Faust geballt. Das sollten sie nur versuchen! Sollten nur wagen, ihr das einzige Licht zu nehmen in diesem dürftigen, kahlen, entsetzlichen Leben!

Sie warf sich auf ihr Bette und starrte in die Dunkelheit.

„Ich wollte, ich hätte ihn nie gesehen; ich wollte, ich wäre todt!“ sagte sie vor sich hin. Und so lag sie, ohne Thränen in stummem Zorn, bis zum Tagesgrauen.

(Fortsetzung folgt.)




Ueber den Schlaf und die Verhütung der Schlaflosigkeit.

Von Dr. A. Kühner, prakt. Arzt in Frankfurt am Main.

Es ist eine naturwissenschaftliche Thatsache, daß alles Leben in einem Wechsel von Thätigkeit und Ruhe besteht, indem die Thätigkeit den Verbrauch, die Ruhe eine Erneuerung der organischen Stoffe bedeutet. Selbst Organe, die, wie das Herz, sich scheinbar in fortwährender Thätigkeit befinden, zeigen bei näherer Betrachtung diese Aufeinanderfolge von Bethätigung und Erschlaffung, Bewegung und Ruhe.

Auch Schlaf und Wachen folgen diesem Wechsel, indem der Schlaf einen Zeitraum ausfüllt, in welchem das schöpferische Leben die durch Thätigkeit verbrauchten Kräfte von Neuem erzeugt und die abgenutzten Organe zu ihrer völligen Wirkungsfähigkeit wieder herstellt. Diese Wahrnehmung macht Jeder, der am Morgen neugestärkt, verjüngt, ja gleichsam wiedergeboren das Lager verläßt, welches er am Abend zuvor erschöpft, oft im Gefühl geistiger und körperlicher Aufreibung aufsuchte. Der Schlaf wird daher schon von Aristoteles, welcher zuerst über diesen Gegenstand geschrieben, als ein nothwendiges Bedürfniß der Ruhe bezeichnet und von dem französischen Gelehrten Bichat neuerdings als eine „mehr oder weniger vollkommene Unterbrechung der Thätigkeit der Sinnesorgane und vor Allem des Gehirns“ gekennzeichnet.

Diese Ruhe des Nervensystems ist über organische Wesen allgemein verbreitet; man beobachtet sie bei den niedersten Thieren und selbst bei gewissen Pflanzen findet man ähnliche Zustände; immerhin ist diese Erscheinung eines mehr oder weniger vollständigen Stillstandes der Gehirnthätigkeit am meisten ausgeprägt bei den höheren thierischen Wesen, und der Unterschied zwischen schlafendem und wachendem Zustande ist um so erheblicher, je mehr die geistigen Fähigkeiten entwickelt sind, wie beim Menschen, bei dem wir die charakteristischen Eigenschaften des Schlafes finden, welcher hier so zu sagen eine Funktion des Gehirns darstellt.

Das Wesen des Schlafes zu definiren, bietet dem Physiologen dieselbe Schwierigkeit, wie eine Definition der Bedeutung des Todes. Wenn Bichat den Tod als das Aufhören der Funktionen des Lebens bezeichnet, so kann man den Schlaf als das Aufhören der Funktionen des wachen Zustandes definiren, wobei dann freilich zu bestimmen bleibt, was das Leben und was der Zustand des Wachens bedeutet. In Betreff des Lebens weiß man, daß die Physiologen mit mehr oder weniger Erfolg eine Definition festzustellen versucht hatten, bis zuletzt der berühmte Physiologe Cl. Bernard zu dem Schluß gelangte, daß das Leben sich nicht definiren läßt, sondern „sich äußert“ – und mit dem Zustand des Wachens verhält es sich eben so. Bei einem enthaupteten Frosche kann das Herz noch vierundzwanzig, ja achtundvierzig Stunden lang Bewegungen zeigen, die Nerven und Muskeln sind noch erregbar; wir können nicht sagen, daß das Herz, daß gewisse Muskeln und Nerven des Thieres aufgehört haben, zu leben, und doch ist das Thier, welchem jene Theile angehören, todt, vollständig todt. Eben so bethätigen sich bei einem Individuum im Schlafe gewisse Muskeln,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 74. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_074.jpg&oldid=- (Version vom 7.11.2023)