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verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

der Feder unserer hervorragendsten Forscher und Meister entflossen, tragen nicht wenig dazu bei, jene, ich möchte sagen, angeborene Sehnsucht aller Vogelkundigen Deutschlands zu mehren und zu verstärken. Aber sonderbar – das schöne, reiche Land liegt uns so nahe, und wird dennoch so selten von uns Deutschen besucht.

Auch ich hatte nur seine Hauptstadt und sonst noch das gesehen, was man von einem Eisenbahnwagen aus sehen kann; ich theilte daher im vollsten Maße die Sehnsucht, von welcher ich eben sprach. Sie sollte erfüllt werden, aber nur, um brennender wieder aufzuleben. „Niemand wandelt ungestraft unter Palmen,“ und kein Vogelkundiger verlebt, ohne später sehnsüchtig Wiederkehr zu verlangen, Maientage in der Fruschkagora.

„Wollen Sie mich,“ frug mich mein gnädiger Gönner, Kronprinz Rudolf, „zu Adlerjagden nach Südungarn begleiten? Ich habe bestimmte Nachrichten von vielleicht zwanzig Adlerhorsten und glaube, daß wir Alle viel werden lernen können, wenn wir sie besuchen und dabei fleißig beobachten.“

Zwanzig Adlerhorste! Man muß jahrelang an die in dieser Hinsicht arme Scholle Norddeutschlands gebannt gewesen sein, muß freudige Ereignisse ähnlicher Art aus dem Wanderleben eines Vogelkundigen sich vergegenwärtigen können, um die Freude zu würdigen, mit welcher ich zusagte. Zwanzig Adlerhorste, in nicht allzugroßer Entfernung von Wien, in geringer von Pest: ich müßte nicht meines Vaters Namen führen, wäre ich gleichgültig geblieben![1] Zu Stunden kürzten sich die Tage bei allerlei Vorbereitungen, und zu Wochen wollten sie sich verlängern bei der Ungeduld, mit welcher ich die Abreise herbeiwünschte.

Es war eine kleine, aber heitere, hoffnungsvolle, waidwerkskundige und strebsame Reisegesellschaft, welche am zweiten Osterfeiertage des Jahres 1878 von Wien aufbrach. Außer unserem hohen Jagdherrn und seinem erlauchten Schwager befanden sich nur Obersthofmeister Graf Bombelles, Eugen von Homeyer und ich als Jagdgenossen auf dem schnellen und behaglichen Schiffe, welches uns einen Tag später von Pest aus der Mündung der „blauen“ Donau entgegen trug. Lenzduftig übergossen von der Morgensonne lag die stolze Kaiserburg in Ofen vor uns; im ersten Grün des jungen Jahres prangten die Gärten des Bloxberges, als wir in früher Morgenstunde von Ungarns Hauptstadt Abschied nahmen.

Mit einer Fahrt auf dem Rheine, der oberen und, wie man sagt, auch der unteren Donau, läßt sich die Strecke, welche wir jetzt durcheilten, nicht vergleichen. Wenige Kilometer unterhalb der Schwesterstädte verflachen die Ufer; rasch sinken zumal die Berge der rechten Stromseite zu ausdruckslosen Hügeln herab, und nur die blau überduftete Ferne zeigt dem Auge noch sanft bewegte Linien mäßig hoher Züge. Am linken Ufer breitet sich die weite Ebene aus. Unabsehbar, ohne Wechsel, gleichförmig, eintönig liegt sie vor den schweifenden Blicken; kaum daß eines der großen reichen Dörfer letztere zu fesseln vermag. Hier und da lehnt ein Hirt in Schäfertracht auf seinem gewichtigen Stabe; aber nicht das fromme Volk der wolligen Schafe ist seiner Obhut anvertraut, sondern grunzende Borstenträger umdrängen den sonnengebräunten Mann oder liegen reihenweise um ihn her, behaglicher Ruhe sich freuend. Um die durch Hochfluthen gefüllten Lachen gaukelt der Kiebitz; über die weiten Flächen schwankt der Kornweih; vor den in steil abfallenden Wänden eingegrabenen Nisthöhlen schweben Uferschwalben auf und nieder; auf den Schindeldächern der zahllosen Schiffsmühlen schreiten, schwanzwippend, zierliche Bachstelzen einher; vom Strome stehen polternd Enten und Scharben auf; über seinem Spiegel kreisen und fliegen Milane und Nebelkrähen. So etwa ist das Bild dieser Gegend beschaffen.

Bald aber ändert sich die Landschaft. Noch mehr verflacht sich die Ebene, welche der Strom einst gebildet und jetzt durchfurcht. Auf weiten noch nicht eingedeichten Flächen, welche jede Hochfluth der Ueberschwemmung aussetzt, theilt er sich in zahl-, meist auch namenlose Arme. Ueppig aufgeschossener Wald bedeckt deren Ufer und die Inseln dazwischen; dichte Ufersäume wehren dem Auge jeden Einblick in das Innere dieses Auwaldes, welcher auf meilenweite Strecken ringsum den Gesichtskreis abschließt. Bei aller Eintönigkeit gleichwohl wechselvolle Bilder entstehen und vergehen, gestalten, verschieben und lösen sich auf, je nachdem das Schiff sich mit dem Strome wendet. Weiden, Weiß-, Silber- und Schwarzpappeln, Ulmen und Eichen, erstere in überwiegender Menge, letztere oft spärlich eingesprengt, bilden den Bestand. Den dichten, fast ausschließlich aus Weiden bestehenden Ufersaum überhöhen ältere Bäume derselben Art; tiefer im Innern der oft weit in das Land einspringenden Waldungen erheben riesige Silber- und Schwarzpappeln ihre ausdrucksvollen Kronen, recken alte knorrige Eichen dürre Wipfelzweige in die Luft. Vom sprossenden Weidenschößlinge an bis zum absterbenden Baumriesen umfaßt ein einziger Blick alle Stufen des Baumlebens: entkeimende, erstarkende, in der Fülle des Wachsthums strotzende, wipfeldürre, vom himmlischen oder irdischen Feuer gefällte und halb verkohlte, auf dem Boden liegende, vermorschende und vermodernde Bäume. Dazwischen glitzert fließendes oder stehendes Wasser hervor; darüber wölbt sich der Himmel. Aus heimlichem Dunkel tönt der Schlag der Nachtigall, des Finken, der Gesang der liederreichen Singdrossel, gellt der Schrei des Falken oder Adlers, jauchzt der Specht, krächzt der Rabe, kreischt der Reiher. Dann und wann reißt eine Lichtung, ein noch nicht wieder überwucherter Schlag eine Lücke durch den Wald und gestattet einen Blick auf die ferne Landschaft dahinter, auf die weite Ebene des rechten Ufers und den sie begrenzenden Hügelsaum, auf endlos scheinende Felder, auf ein Kirchdorf, eine Stadt. Im Sommer, wenn das Blattgrün wesentlich dieselbe Färbung zeigt, im Spätherbste, Winter und Vorfrühlinge, wenn die Bäume unbelaubt sind, mag diese Uferlandschaft ermüdend wirken; jetzt erscheint sie zwar gleichförmig, aber nicht reizlos; denn alle die Weiden- und Pappelarten stehen gegenwärtig im jugendlichen Blätterkleide, meist auch im Schmucke der Blüthenkätzchen, und lassen die Waldungen, hier und da wenigstens, förmlich bunt erscheinen.

Nur an wenigen Stellen ist solcher Wald zugänglich, weil er im großen Ganzen nichts Anderes ist als ein ungeheurer Bruch. Versucht man, bald auf trockenen Pfaden, bald auf Wasserstraßen und Gewässern anderer Art vordringend, in das Innere zu gelangen, so erreicht man früher oder später eine Wildniß, wie Deutschland keine ähnliche aufzuweisen hat. Auf den am höchsten über dem Stromspiegel gelegenen Stellen, da wo fetter, theilweise schlammiger Boden sich findet, wird man noch am ersten an deutsche Auwaldungen erinnert. Hier stellen Maiblümchen einen saftig grünen, durch die weißen, duftigen Glöckchen wunderherrlich verzierten Teppich dar, welcher oft auf weite Strecken hin den Boden deckt; aber schon hier wuchern geilwüchsige Nesseln und Brombeeren in solcher Fülle auf, verschlingen verschiedene kletternde Rankengewächse ganze Waldestheile so vollständig, daß dem Fuße fast unüberwindliche Hindernisse entgegentreten. Auf anderen Stellen aber wird der Wald thatsächlich zum Bruche, aus und über welchem sich die Riesenbäume erheben. Mächtige Stämme, vom Alter, vom Sturme, vom Blitze, vom leichtsinnig entzündeten Feuer des Hirten gefällt, liegen vermorschend im Wasser, oft schon zum Nährboden jüngeren, üppig aufgeschossenen Buschwerkes geworden; andere, noch weniger von Verwesung ergriffen, sperren Weg und Steg. Abgefallenes Holz, von dicken Aesten an bis zu den schwächsten Zweigen herab, ist vom Winde zusammengeschwemmt worden und stellt schwimmende Inseln und vorspringende Zungen dar, welche dem kleinen Boote oft nicht geringere Hindernisse bereiten wie dem watenden Fuße. Aehnliche Schwimminseln, aus Rohr und Schilf bestehend, bilden auf weithin eine schlotternde Decke freierer Wasserflächen. Erhöhte Schlammbänke, auf denen Weiden- und Pappelarten den geeigneten Boden für ihre Samen fanden, stellen undurchdringliche Dickichte her und machen selbst den Rohrwaldungen, welche geographische Geviertmeilen bedecken können, den von ihnen bewachsenen Grund streitig; Zwergweiden, jugendfrische und greisenhafte Horste zugleich darstellend, treten tiefer in den Rohrwaldungen als dunklere Flecke hervor. Was der dichtere Wald mit seinen Brüchen und Dickichten, was das Röhricht bergen mag, bleibt dem suchenden Auge des Forschers größtentheils verborgen; denn nur die Säume dieser Waldwildnisse vermag er zu durchspähen.

Auf solchem Gebiete begannen wir die Jagden, welche in erster Reihe den Beherrschern der Lüfte gelten sollten.



  1. Die Biographie und das Portrait des „alten Brehm“ findet der Leser in dem Artikel „Der Vogelfreund im Pfarrhause“ (Jahrgang 1861, Seite 661. Sie ist mit einem stimmungsvollen Bilde geschmückt und von dem Sohne Christian Ludwig’s, von Alfred Edmund Brehm, geschrieben.
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verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1887, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_050.jpg&oldid=- (Version vom 19.1.2023)