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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

aber einen Mann des Volks, der, die ländliche Beschäftigung hinter sich lassend, in den Städten als Arbeiter thätig ist.

Beim Sonnenaufgang.

Mittagsschläfchen.

Mehr noch in Moskau als in St. Petersburg ist der Muschik eine oft wiederkehrende Figur in dem Straßenleben. Oefter als heut zu Tage begegneten wir ihm zur Zeit der Leibeigenschaft, wo die Adeligen Leibeigene in großer Zahl zu Dienstleistungen nach der Stadt brachten und außerdem dieselben für alle möglichen Arbeiten vermietheten. Nahmen nun auch die Herren eine bestimmte Abgabe (Obrok) von dem Verdienst des Arbeiters, so blieb immerhin der leibeigene Bauer in gesicherter Lage, da es im Vortheil seines Herrn lag, das nutzbringende Objekt, den Leibeigenen, ertragsfähig zu erhalten. Heute ist der Muschik freier Arbeiter und sein eigener Herr, und zwar in vielen Fällen nicht zu seinem Vortheil und Gewinn. Seine Leichtlebigkeit, seine Bedürfnißlosigkeit und ganz besonders sein Hang zum Branntwein verschulden es, wenn er nur ausnahmsweise seine Existenz dauernd verbessert, „es zu etwas bringt.“ Der Muschik ist trotzdem kein landloser Bauer, da seit der Aufhebung der Leibeigenschaft allen Bauern in Rußland Land zugewiesen wurde. Sein Antheil am Grund und Boden bleibt ihm darum gesichert, und so verläßt er in den meisten Fällen zur Zeit der Ernte die Städte und hilft seiner auf dem Lande zurückgebliebenen Familie, die Feldfrucht und das Heu einheimsen. In diesem Falle bringt er wohl den Seinen das in der Stadt Erworbene heim oder verwendet es zur Verbesserung seines Besitzes im Dorfe. Die Bauern jedoch, welche sich von der heimischen Scholle lossagten und ihren ständigen Aufenthalt in der Stadt haben, obschon sie gesetzlich noch stets als im Dorfe ansässig und dahin gehörig betrachtet werden, haben sich am allerhäufigsten von den schädlichen Einflüssen der Stadt nicht fern halten können, und es ist eben besonders der Genuß des Branntweins, der hier so verderblich wirkt. Wir sehen darum auch, daß der Künstler dem Muschik als sein Wahrzeichen, die, wenn auch in künstlerischer Freiheit etwas zu groß gerathene Flasche in den Arm gegeben. In der ersten Skizze finden wir ihn bei der Morgenandacht vor dem Obros (Heiligenbild) knieend, vor dem er sich übrigens nur unzählige Male verbeugen und bekreuzigen wird; denn eigentliches Gebet gehört kaum zu den religiösen Uebungen, die er mit großer Gewissenhaftigkeit beobachtet. Die große Schnapsflasche im zweiten Bild, mit welcher er beim Sonnenaufgang im Piteinin Dom, dem Branntweinladen, erscheint, will er sich keineswegs, wie man glauben möchte, füllen lassen; er kann sie höchstens gegen eine neue umtauschen; denn die alkoholischen Getränke dürfen in Rußland durchaus nicht wie in Deutschland und anderwärts nach dem Maß verkauft und verschenkt werden, sondern nur in versiegelten Gefäßen, die vom kleinsten bis zu den größten mit den russischen Steuerzetteln „verklebt“ sind. Der Branntwein bildet in Rußland ein Regal und die Haupteinnahmequelle des Staates, deren Erträgniß etwa 200 Millionen Rubel jährlich beträgt.

Mittagsmahl.

Beim Pfeifchen „Machorka“.

Wir finden den Muschik sodann bei der Arbeit; er leistet alle möglichen Dienste. Namentlich als Zimmermann zeigt er sich findig und anstellig. Seine Mahlzeit ist äußerst frugal, bescheiden und fast stets die gleiche: Kohlsuppe (Schtschi), Grütze von Buchweizen (Kascha) und grobes, schwarzes Roggenbrot; als Erfrischungsgetränk liebt er ungemein den nationalen Kwas, aus gesäuertem und gegohrenem Brotteig bereitet. Häufig sieht man ihn sein Mittagsbrot auf der Straße verzehren, das dann wohl bei den Pflasterern etwa auch nur aus Schwarzbrot und Wasser besteht. Sehr gebräuchlich aber ist es, daß die sogenannten „schwarzen“ Arbeiter sich zu einem Artel, zu einer Genossenschaft von Zwölfen und mehr vereinigen, um gemeinsame Menage in einem gemeinsamen Quartier zu machen. Volksküchen, welche als wohlthätige Anstalten in den Hauptstädten Rußlands unterhalten werden, besuchen in der Regel nur die Vagabunden und Bettler.

Ohne Rücksicht auf irgend welche Bequemlichkeit finden wir in den russischen Städten regelmäßig in der Mittagspause den Arbeiter im Freien, etwa auf dem Pflaster, falls dieses gerade sein Tagewerk ausmacht, zu einem Schläfchen ausgestreckt. Daß er sich bei der Arbeit des Wassertragens den Luxus eines Pfeifchens gestattet, beobachtet man seltener, obschon er den narkotischen Genuß des Tabaks keineswegs verschmäht. Indessen sind hierbei seine Ansprüche ungemein bescheiden. Er stopft sich in geschickter Weise in ein wenig Zeitungspapier, das er zu einer Cigarrette oder kleinen Pfeife zu drehen weiß, eine dem europäischen Westen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_043.jpg&oldid=- (Version vom 19.1.2023)