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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

gern gehabt, aber daran, daß er mich heirathen wollte, dachte ich nie. Es ist ein so großes Glück für mich, sagen sie Alle,“ schloß sie.

„Da haben sie Alle Recht. Er ist eine Seele von einem Menschen, ganz wie sein Vater, sein guter Vater –.“

In diesem Moment fuhr Lucie empor, sie hatte das Rollen eines Wagens gehört.

„Das ist er! Das ist er!“ rief die Tante. „Da will ich doch gleich hin, damit er nicht erst nach oben geht.“ Und sie lief, so rasch es ihre Fülle gestattete, den Weg entlang. Aber ehe sie noch die Thür in der Mauer erreichte, ward sie aufgethan, und ein mittelgroßer untersetzter Mann schritt mit einem ruhigen „Guten Abend! – ich dachte es mir wohl,“ an ihr vorüber und kam gemessenen Ganges durch die leichte Dämmerung zu der Laube herüber, an deren Pfosten ein vor innerer Erregung blasses Mädchen lehnte, scheue Erwartung in den großen Augen.

Er ergriff herzlich ihre beiden Hände und bog sich etwas onkelhaft ehrbar zum Kuß hernieder. „Willkommen, Lucie, in der neuen Heimath!“ sagte er mit verhaltener Bewegung in der Stimme. „Wie gern hätte ich Dich auf dem Bahnhofe begrüßt, aber ein unaufschiebbarer Krankenbesuch – – wir Aerzte sind keinen Moment Herr unsrer Zeit.“

Sie saßen neben einander auf der Bank und hielten sich bei den Händen. „Wie gut, daß Du da bist,“ flüsterte sie und sah ihm in das ernste Gesicht, das von einem röthlich blonden Barte umrahmt war und unverkennbar an die Mutter erinnerte mit der geraden Nase, der hohen Stirn und den hellen Augen, nur daß hier keine Spur jener Verbissenheit zu finden war, welche der Mutter Züge völlig beherrschte. Die Augen blickten treuherzig zu der jungen Braut hinunter.

„Der Abschied wurde Dir sehr schwer, nicht wahr?“ sprach er weich. „Aber es mußte sein, Lucie! Wir kennen uns noch so wenig, und ich will doch nicht, daß Du mit einem wildfremden Menschen vor den Altar treten sollst, nicht wahr, Kleine?“

„O – deßhalb – –.“ Sie schwieg.

„Ich habe es Deiner Schwester versprochen, und sie hat Recht.“

Sie saßen wieder still neben einander; Lucie hatte Thränen in den Augen. Es war wohl richtig; sie kannte ihn noch so wenig, immer nur flüchtige Minuten hatten sie sich gesehen am Krankenbette der Schwester; nachdem er an jenem Abend das Jawort erhalten, war er nicht einmal zu Tische geblieben, weil ein Schwerkranker auf ihn wartete. Und dieser Kranke hatte ihn in der nächsten Zeit ebenfalls von der Oberförsterei fern gehalten, und als er endlich eines Sonntags Mittags kam, da theilte er den Erstaunten mit, daß er sich in seiner Vaterstadt als Arzt niederzulassen gedenke, und zwar in allernächster Zeit, um, wie er sagte, seiner kleinen Frau ein behagliches Heim zu bereiten.

Es wäre eine gute Idee, hatte der Schwager gemeint, es sei da viel Landbevölkerung in der Umgegend, und die Bauern bezahlten gleich baar. Die Doktoren würden in der Gegend immer reiche Leute –. „Meine Mutter hat mich auf den Gedanken gebracht,“ hatte er erwidert, „sie ist eine praktische Frau.“ Dann waren sie Beide nach dem Essen in den Wald gegangen; der erste junge Frühlingsschimmer hatte über den Bäumen gehangen und Anemonen und Himmelsschlüsselchen am Boden erblüht. Sie waren Hand in Hand auf dem feuchten Waldpfad geschritten, und er hatte von seiner Mutter gesprochen und von seinem verstorbenen Vater, und wie er sich freue, in dem alten Städtchen zu wirken und zu schaffen, in dem er seine Kinderjahre verbrachte. Sein ganzes Leben lag vor ihren Augen, jedes Wort drang ihr ins Herz, und am Abend, als er längst Abschied genommen mit einem „Auf Wiedersehen in Hohenberg!“ da hielt sie noch beim Einschlafen den blühenden Haselnußzweig in der Hand, den er ihr gepflückt. Es that ihr weh, daß er jetzt von einem „Kennenlernen“ sprach, sie wußte nicht weßhalb.

„Und wenn wir uns nun kennen lernen, Alfred, und Du oder ich finden uns getäuscht in unseren Erwartungen – was dann? Sollen wir dann von einander gehen?“

„Das möge Gott verhüten,“ sagte er erschrocken und drückte ihre Hand. „Es wird nicht sein!“

Nun ging die Gartenthür, und mit langsamen bedächtigen Schritten kam die Mutter den Weg entlang, hinter ihr trippelte Tante Dettchen. Beide Damen waren mit Handarbeiten beschäftigt; Frau Räthin strickte sogar im Gehen; sie setzte sich dem jungen Paare gegenüber, ohne einen Augenblick die Arbeit zu unterbrechen. „Guten Abend, Alfred!“ sagte sie, seinen Gruß erwidernd.

„Hat Dir Deine Braut schon von ihrer Reisegesellschaft erzählt?“ fragte sie nach einer Pause.

„Ich fuhr mit Frau von Löwen,“ sagte das Mädchen ruhig; „sie war so liebenswürdig, mir aus einer großen Verlegenheit zu helfen; ich habe nämlich in H. mein Portemonnaie mit dem Billet verloren, und sie – –.“

„Verloren?“ rief die alte Dame empört. „Und das sagst Du erst jetzt? Du hättest sofort an die Direktion der Eisenbahn schreiben müssen! Nein, Alfred, wie ist’s möglich!“

„Und sie war Dir behilflich, ein anderes Billet zu lösen?“ erkundigte er sich, ohne auf die Mutter zu achten.

„Ja! – und ich möchte Dich fragen, auf welche Weise ich das Geliehene am besten zurückerstatte?“ fuhr Lucie fort. „Wir haben als Kinder mit einander gespielt,“ setzte sie noch hinzu.

„Du trägst es ihr selbst hinüber,“ sagte er ruhig.

„Ich danke Dir, Alfred.“

Die Frau Steuerräthin strickte noch eifriger als vorher.

„Du findest es doch auch so am schicklichsten, Mutter,“ wandte sich der Sohn zu ihr, „zumal ich im Meerfeldt’schen Hause Arzt bin? Kollege Mostner wird leider nicht im Stande sein, die Praxis wieder aufzunehmen.“

„Große Ehre!“ klang es durch die Dämmerung.

„Der Arzt muß gehen, wohin er gerufen wird, Mutter!“

„Meinetwegen,“ seufzte sie, „er bezahlt wenigstens, und auf solche Kundschaft mußt Du sehen, wenn Du heirathen willst. Von Haus aus hast Du kein Vermögen.“

Er überhörte diese Anspielung auf die arme Braut, die er sich erwählt, vollständig.

„Uebrigens,“ fuhr die Mutter fort, „mußt Du doch zugeben, daß die Erneuerung dieser Bekanntschaft nicht angemessen ist für Deine Braut, und wirst die Fortsetzung derselben nicht wünschen.“

„Allerdings nicht, weil für meine Lucie der Verkehr mit einer Dame der großen Welt nicht durchführbar und vielleicht sogar nachtheilig sein dürfte. Aber aus einer einfachen Gefälligkeit erfolgt doch noch kein unauflösliches Freundschaftsverhältniß, Mutter.“

„Du hättest nur Lucie sehen sollen, wie entzückt sie von dieser Begegnung sprach.“

„Ich ward so an mein Elternhaus und meine Kinderzeit erinnert,“ entschuldigte sich das junge Mädchen. Es klang, als spreche sie durch Thränen.

„Bist Du nicht müde?“ fragte der Bräutigam rasch. „Ich meine, die Fahrt bei dem warmen Wetter hätte Dich angegriffen? Gehen wir hinauf, ich werde Dir unser Gaststübchen zeigen. Versuche einmal, wie es sich in demselben schläft.“

„Ach ja!“ sagte sie aus vollstem Herzen. Als sie sich bald darauf in ihrem Stübchen allein befand, legte sie die Hände vor die Augen und weinte leise, vor Heimweh, wie sie meinte.




Am anderen Nachmittag gegen fünf Uhr kleidete sich Lucie für den Besuch an. Sie hatte den ganzen Morgen über beim großen Pfingstreinemachen helfen müssen, und dabei war unaufhörlich die Stimme der alten Dame erklungen wie Signale auf dem Manöverfelde. „Bei mir wird das so gemacht, liebes Kind! – Ich halte es für praktischer, wenn man diese Messinggriffe mit Kreide reinigt, wegen des weißen Lackes der Thüren. Aber, Kind, ich bitte, in welcher Wirthschaft hast Du gelernt, die Stühle so auf einander zu schachteln? Meine Möbel haben nicht eine Schramme und sind achtunddreißig Jahre im Gebrauch! Was soll das denn werden, wenn Du mit Deinen Sachen künftig so umgehst?“

Tante Dettchen hatte dazu gelächelt und Lucie zugeflüstert: „Sie meint’s nicht so böse.“ Und Lucie lächelte mit, sie war ja seine Mutter! Sollte es denn so schwer sein, ihr Herz zu gewinnen, wenn sie sah, wie Lucie Alles that, den Sohn glücklich zu machen?

So kam sie denn in ihrem besten Anzug aus grauer Beige, der so kleidsam die schlank aufgebaute Gestalt umschloß, in die Wohnstube, in der sich Scheuergeruch mit den Fliederdüften vermengte, die reichlich aus allen Porcellanvasen aufstiegen, und sagte Mutter und Tante, die strickend an den Fenstern sich gegenübersaßen, „adieu“.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_022.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2023)