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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

der Beruf mit Vorsicht gewählt wird. Wo die in der Familie herrschende Nervenschwäche hochgradig ist und sich in früher Jugend bereits bedenkliche Zeichen dieses Krankheitskeimes kundgeben, da soll der junge Mann einem solchen Berufe zugeführt werden, welcher dem Ehrgeize und den Leidenschaften geringen Antrieb gewährt und eine mehr beschauliche, ruhige Lebensweise gestattet, wie dies ja bei manchem bürgerlichen Gewerbe und in der Landwirthschaft der Fall sein kann. Die jungen zur Nervenschwäche erblich geneigten Mädchen müssen besonders vor dem Lesen schlechter Bücher und vor dem Umgange mit überspannten Genossinnen bewahrt werden, damit nicht die Phantasie ungezügelte Herrschaft gewinne und Ideen wecke, welche in einer vernünftigen Ehe ihre Erfüllung nicht finden können.

In der Behandlung der Nervenschwäche kommen vorzugsweise die den Organismus kräftigenden Methoden in Anbetracht, bei denen kühle und kalte Abreibungen, Seebäder, Stahlbäder, Eisenmoorbäder neben stärkenden inneren Mitteln, einer geeigneten Ernährungsweise und Aufenthalt in gesunder schöner Landschaft die Hauptrolle spielen und je nach der Konstitution des Kranken zur Anwendung gebracht werden. Bei hohen Graden von Neurasthenie ist die Unterbringung in einer Kuranstalt, welche den Kranken frei von äußeren Beeinflussungen und Eindrücken unter besondere Beobachtung und Pflege stellt, von großem Nutzen.

Unter den Mammuth-Bäumen Kaliforniens.
Originalzeichnung von R. Cronau.

Auf die kräftige Ernährung ist bei Nervenschwachen ein Hauptgewicht zu legen und nach dieser Richtung sucht besonders eine Nährmethode zu wirken, welche zuerst von einem amerikanischen Arzte, Weir-Mitchel, gegen schwere Formen von Neurasthenie empfohlen und seither von hervorragenden Autoritäten erprobt wurde. Dieses Verfahren, die sogenannte Fütterungskur, zielt dahin, in einer kurzen Zeit, innerhalb weniger Wochen den allgemeinen Kräftezustand, die Ernährungsverhältnisse sämmtlicher Körpergewebe und besonders diejenigen des Nervengewebes in auffälliger Weise aufzubessern. Durch systematische Zufuhr einer allmählich sich steigernden, enormen Menge von Speisen innerhalb vierundzwanzig Stunden wird Blut und Fett in reichlichem Maße neu gebildet und das Gewicht des Kranken in kurzer Zeit um viele Pfunde vermehrt. Zu dieser Kur gehört jedoch, daß der Nervenschwache aus seiner gewohnten Umgebung entfernt (ja sogar unter Umständen in eine besondere Anstalt gebracht) werde und absolute geistige Ruhe bewahre, während die körperliche Bewegung fast nur auf Massage beschränkt wird. Es ist staunenswerth, welche Unzahl von Speisen die Kranken bei solcher Fütterungskur vertragen, und die günstigen Resultate bezüglich der Besserung des Nervenleidens sind zuweilen überraschend. Aber auch ohne derartige strenge Mastdiät vermag schon eine kräftig nährende, leicht verdauliche Kost zur Hebung der gesunkenen Nervenernährung ganz Bedeutendes zu leisten.

Wenn bei einer solchen Nährweise schwere Weine und starkes Bier oft eine wichtige Rolle zur Hebung der Kräfte spielen, so müssen doch andrerseits Nervenschwache vor dem unmäßigen Genusse geistiger Getränke gewarnt werden. Dazu sowie zu dem Mißbrauche der Opiummittel sind gerade Nervenschwache sehr geneigt, weil sie im Weine und Alkohol ein Reizmittel und im Opium ein angenehmes Beruhigungsmittel finden; doch Wein und Opium sollen hier nur als Arzneimittel zum sorgsamen und seltenen Gebrauche Anwendung finden. Nur zu leicht gewöhnen sich die in ihren Nerven geschwächten Personen daran, durch stärkere alkoholhaltige Getränke künstlich die Nerven aufzustacheln und anzuspornen, und sinken dadurch von Stufe zu Stufe in den Sumpf der Alkoholvergiftung. Oder sie lassen sich, um ihre Schmerzen zu stillen, zum Genusse von Opium verleiten, spritzen sich Morphium unter die Haut ein und verfallen in das Siechthum des Morphinismus. Auch mit anderen Reizmitteln, mit dem Trinken von starkem Kaffee und Thee sowie mit Tabakrauchen, welche ja für einige Zeit die ermüdeten und geschwächten Nerven flüchtig zu beleben vermögen, treiben die Nervösen leicht Mißbrauch, der sich dann durch dauernde Verschlimmerung des Nervenleidens rächt.

Von Wichtigkeit ist bei Behandlung der Nervenschwäche, daß der Arzt auch einen psychischen Einfluß auf den Kranken übe, daß er diesen lehre, die Willenskraft zu erhöhen, die Nerven zu stählen, daß er ihm Selbstvertrauen einflöße und daß er ihm eine geeignete Diätetik der Seele vorschreibe. Dazu aber, daß die Nervenschwäche keine noch größere Verbreitung nehme und nicht unsere ganze Generation erfasse, dazu sollte jeder Gebildete in seinem Kreise durch Beispiel und erzieherisches Wirken beitragen. Er sollte eintreten in den Kampf gegen jene Mächte, welche unser Geschlecht entkräften, gegen das wüste Jagen nach Reichthum, das ruhelose Streben nach „Immer mehr!“, das schrankenlose Genießen der Sinnenlüste, das ewige Hasten nach Geld, Auszeichnung und Macht. Er sollte dahin mit streben, daß sittliche Selbstzucht und geistige Beherrschung gepflegt werde, daß Jedermann in seiner Arbeit Befriedigung finde, daß edlere Genüsse als nur materielle anzustreben sind und daß das reine Glück still friedlichen Familienlebens zur höchsten Schätzung gelange.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 12. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_012.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2024)