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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)

Unschuld. Das Paradies verloren jedoch auch sie; ja, wenn sie nicht selbst durch den Umgang mit den sündigen Menschen verdorben werden sollten, so mußten sie sich vor denselben zurückziehen, und je weiter die Menschen sich verbreiteten, je mehr sie alle Ebenen und Thäler besiedelten, desto weiter mußten die Salige Fräulein fliehen, bis sie endlich nur noch auf Höhlen und Wälder angewiesen waren. Ganz entsprechend stehen sie mit ihrer nächsten Umgebung, den menschenscheuen Gemsen, auf dem vertrautesten Fuße. Sie, die sich selbst leicht und sicher, wie die Gemsen, an den Felsen hinauf- und hinunterbewegen, sind auch die Beschützerinnen dieser Thiere und hassen Niemand mehr, als die Gemsenjäger. Doch jeden Verkehr mit den Menschen meiden sie keineswegs. Manchmal kommt es schon vor, daß eines derselben an einen Hirten, dessen braves Walten und fromme Art, auch gegen die Gemsen, es beobachtet, herantritt, ihm leise auf die Schulter klopft und ihn anspricht. Es lädt ihn dann ein, das verlorene Paradies zu sehen und dessen Freuden zu genießen; denn wenn auch das biblische Paradies für sie selbst aufgehört hat, einen Ersatz haben sie doch dafür. Nur liegt es nicht mehr auf der Erde, sondern hat sich, damit die Menschen ungeheißen nicht dahinkommen, in die Erde geflüchtet. Wer da hineingekommen ist, der kann gar nicht sagen, welche Wunder an Reichthum und Schönheit er gesehen hat. Alles übertreffen aber die Salige Fräulein selbst, mit solchem Liebreiz und so zauberischem Gesange sind sie begabt. Wie rauh und armselig kommt dem Menschen, der dieses Glück gesehen und genossen, seine Welt vor! Unwiderstehlich zieht es ihn zu den Salige Fräulein zurück. Sie verwehren es auch demjenigen, welchen sie einmal in ihr Paradies geleitet, nicht, wiederzukommen und sich zu freuen, so oft er immer will; nur darf er anderen Menschen nichts davon verrathen. Das ist nun aber eine harte Probe. Den Sommer über geht’s, da kann man Tag für Tag den Bergsteig hinaufklimmen; aber wenn der Schnee das Wiederkommen unmöglich macht, dann nagt die Sehnsucht so schmerzlich an dem Herzen des Bevorzugten, daß er sein Geheimniß wenigstens dem theilnehmenden Mutterherzen verräth. Damit ist auch das wiedergefundene Paradies verscherzt. Wenn er wieder an den Eingang kommt, ist er ihm versperrt, und keines der Salige Fräulein ist mehr zu sehen. Sein Schmerz steigert sich zur Verzweiflung. Er weiß jedoch, wie er sie dafür strafen kann, und wird Gemsenjäger. Da sieht er freilich nochmals eine der Adamstöchter, wie sie ihre Gemse vor seinem Schusse schützt und an ihn herantritt, zornig und doch schmerzerfüllt. Er kann ihren Anblick nicht mehr ertragen. Sein Fuß wankt; er stürzt, und zerschmettert liegt er unten im Thale.

Die künstlerische Phantasie Mathias Schmid’s hat die Salige Fräulein am Jamthaler Gletscher gesehen, und ich kann es nur als einen glücklichen Gedanken bezeichnen, daß er ihr Bild sofort mit dem Stifte festgehalten hat. (Vgl. S. 13.) Er hat damit nicht bloß gezeigt, welche reiche Motive der Kunst unsere germanische Mythologie und der Volksglaube bieten können, sondern seinem Heimaththale einen neuen Reiz verliehen. Gar Manchem, der es künftighin besuchen und den mühelosen Steig zum Jamthaler Gletscher gehen wird, werden nunmehr dort auch die Salige Fräulein erscheinen.

Scheinbar einen modernen Gegenstand, eine thalübliche Sitte stellt unsere Vignette, das Spalunkesgehen (S. 8), dar. Ein junger Bursche, welcher endlich den letzten Schritt zur Verlobung thun will, geht in der Abendstunde, begleitet von seinem besten Freunde, zum Hause seiner Auserkorenen, nachdem vorher ein Fäßchen an seiner Seite im Wirthshause mit Wein gefüllt worden. An dem Hause angekommen, legen die beiden eine Leiter an, der Bursche steigt auf derselben, die vom Freunde gehalten wird, an das Fenster des Mädchens, klopft und fordert ein entscheidendes Wort. Ist es zu gleichem Entschlusse bereit wie der Bursche, so geht Alles in die Wohnstube. Am Herde beginnt das Backen, und darauf folgt ein einfaches, aber, es läßt sich denken, fröhliches Mahl. „Ich siech (sehe) Di,“ sagt der Freier und stößt an. „Ich hör Di,“ antwortet ihm das Mädchen. „Ich han Di scho öfter g’sehn“, ergreift jener nochmals das Wort, worauf dieses versetzt: „Wenn’s mir’s bringst, lass’ ich’s g’schehn.“ Die Verlobung ist fertig. Das Paznauner Völkchen weiß nicht mehr, warum es gerade so seine Verlobung feiert. Es ist eben Sitte. Aber die Forscher vermuthen mit Recht, daß diese Sitte in alten Ueberlieferungen wurzelt. Die Ehen kamen in heidnischer Zeit durch Kauf zu Stande, der Kauf aber durch Vertrag, und der Vertrag wurde durch einen Weinkauf bestätigt, welcher jedoch öffentlich sein mußte, weßhalb an die Personen, welche Zeugen des Geschäftes sein sollten, Wein vertheilt wurde. Ein so ausgesprochenes Beispiel von wirklichem Weinkaufe bei der Ehe scheint sich außer in Paznaun nirgends erhalten zu haben, und wir müssen Mathias Schmid dafür dankbar sein, daß er uns auf diesen Zug aufmerksam gemacht hat.

(Schluß folgt.)


Die Nervenschwäche (Neurasthenie).

Von Prof. Dr. E. Heinrich Kisch in Prag-Marienbad.


Ein französischer Philosoph, Michelet, that den Ausspruch, gewisse Jahrhunderte seien durch bestimmte vorherrschende Krankheiten charakterisirt, so das 13. Jahrhundert durch das Herrschen des Aussatzes, das 14. Jahrhundert durch die Verheerungen der Pest, des „schwarzen Todes“. Wollte man dieser Behauptung eine Berechtigung zusprechen und demgemäß nach der Krankheit forschen, welche als unserem Jahrhunderte eigenthümlich zu bezeichnen sei, so würde ich das 19. Jahrhundert das der Neurasthenie nennen.

In der That, es hat manch Bestechendes für sich, unser Zeitalter als das nervenschwache Jahrhundert zu bezeichnen. Die Zeit, in welcher die Dampfkraft das All beherrscht und jegliche Arbeit sich mit überstürzender Hast vollzieht, stellt auch die höchsten Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der menschlichen Maschine, besonders aber an den Motor der Letzteren, das Nervensystem. Der Kampf um das Dasein, den die Gegenwart mit vollkommneren Waffen als in früheren Jahrhunderten, aber auch hartnäckiger und eingreifender führt, veranlaßt in allen seinen Stadien ein stürmisches Aufgebot der Kräfte unseres Organismus, hält jedoch vor Allem das Denken und Fühlen, das Sinnen und Trachten, das Forschen und Erwägen, kurzum die Thätigkeit der Nerven in steter Spannung. Was Wunder, daß die Maschine frühzeitig abgenutzt, daß die Nervenkraft leicht erschöpft wird.

Das Nervensystem des Kindes wird schon durch die Schule mit ihren immer höher geschraubten Anforderungen in einer Weise in Anspruch genommen, welche in Bezug auf körperliche wie geistige Anstrengung nicht immer der zarten Organisation des kindlichen Alters Rechnung trägt. Mit den staunenswerthen Leistungen der Schule der Gegenwart geht als dunkler Schatten eine beklagenswerthe Nervenschwächung der Jugend einher. In der weiteren Entwickelung des Menschenlebens bringt die Periode der Berufsarbeit dem Manne im Wettbewerbe um den Preis der Existenz gar viele Momente der Ueberanstrengung der nervösen Apparate, während auf der anderen Seite das gesellschaftliche Leben mit seiner Jagd nach raffinirten Genüssen Ueberreizung und Uebermüdung des Nervensystems herbeiführt. Die moderne Erziehung unserer Mädchen mit der Ueberbürdung durch geistigen Ballast und mit Vernachlässigung der körperlichen Entwickelung führt zu Angriffen auf die Nervenkraft, welche nicht spurlos später an der Gattin und Mutter vorübergehen und als schlimmste Folge die erbliche Belastung der neuen Generation mit angeborener Nervenschwäche mit sich bringen.

Als Nervenschwäche, Neurasthenie, bezeichnet man jenen abnormen Zustand des Nervensystems, der sich im Wesentlichen und in erster Reihe durch erhöhte Reizbarkeit und herabgeminderte Leistungsfähigkeit der Nerven kennzeichnet. Es kann nicht Aufgabe dieser Zeilen sein, die feine und vielgestaltige Organisation des Nervensystems näher zu schildern und das Detail anzugeben über die nervösen Apparate des Gehirnes, des Rückenmarkes und der Nerven, durch welche die Seelenthätigkeit, das Bewußtsein, die Empfindung, das Denken, Fühlen und Wollen, die der Willkür unterworfenen und unwillkürlichen Bewegungen, die ernährenden und absondernden Vorgänge im Organismus zu Stande gebracht werden. Nur so viel sei erwähnt, daß all dies vorerst auf der Fähigkeit der Nerven beruht, durch Reize in erregten Zustand versetzt zu werden, Reize, welche vom centralen Nervensystem ausgehen oder die Endausbreitungen der Sinnes- und Gefühlsnerven treffen und welche mannigfaltiger Natur, mechanischer, thermischer, chemischer Art sein können. Damit die Nerven durch solche Reize in eine normale, dem Zwecke der Nervenfunktion entsprechende Erregung versetzt werden, müssen in der Nervensubstanz reguläre Ernährungsvorgänge stattfinden. Sobald diese letzteren, aus welchem Anlasse immer, beeinträchtigt sind, leidet auch die Arbeitskraft der Nerven. Wenn die Ernährung der Nerven in unzureichendem Maße erfolgt, so ist Erhöhung ihrer normalen Erregbarkeit gewöhnlich die erste Folgeerscheinung. Bei länger dauernder wesentlicher Beeinträchtigung der Nervenernährung wird die Erregbarkeit der Nerven unter die Norm herabgesetzt, ja unter Umständen völlig aufgehoben und vernichtet.

Der Anlässe, durch welche die Ernährungsvorgänge in den Nerven leiden, giebt es gar viele. Sie können in schlechter Blutbeschaffenheit, in krankhaftem Stoffwechsel, in übermäßiger Anstrengung der Nerven, in gehäufter Erregung ohne Ruhepausen, überhaupt in jeder unzweckmäßigen Lebensweise gelegen sein. Darum tritt die Nervenschwäche so häufig als Begleiterin der mannigfachen fieberhaften wie fieberlosen (chronischen) Erkrankungen auf. Deßhalb ist dieser Zustand auch beiden Geschlechtern

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_010.jpg&oldid=- (Version vom 6.1.2024)