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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887)


Die alte Französin warf einen Blick zur Decke und stieß einen Seufzer aus. „Ich konnte es mir denken, mein Herr,“ sagte sie und ging hinaus. – Ihre Zimmer lagen durch die Breite des Hausflurs getrennt von denen des alten Herrn. Sie konnte nur schlecht die Treppen ersteigen und kam selten oder garnicht in die Räume ihrer einstigen Schülerin. Sie führte in ihrem Wohngemach zwischen alten Erinnerungen ein still beschauliches Leben mit ihrer Angorakatze, murrte, wenn sie schlechter Laune war, über das langweilige Dasein, schrieb ihre Memoiren, wobei sie die früher gewissenhaft geführten Tagebücher benutzte, und spielte jeden Nachmittag ihre Schachpartie mit Monsieur le Baron, wobei es außerordentlich zierlich und complaisant zuging. Sie hatte nur einen Kummer, das war die Undankbarkeit von Hortense, mit der diese ihre zweite Mutter, wie sie sich selbst zu nennen pflegte, behandelte. Hortense war so über alle Begriffe „selbständig“; sie vertraute ihr keinen Kummer an, fragte nie um Rath, und daher kam es natürlich, daß sie Narrheiten beging. Wenn sie öfter den Weg in Mademoiselles Zimmer hätte finden können, so – dann! Aber auch heute war sie ohne „guten Tag!“ nach oben gegangen. Es ist hart, so als Null behandelt zu werden!

Mademoiselle Bertin war, sich am Geländer haltend, mühsam die Stufen hinauf geschritten; nun hallte ihr tiefes Athemholen förmlich im Korridor wider. Sie trat dann feierlich in das Zimmer der jungen Frau; da flog im nämlichen Moment krachend die gegenüberliegende Thür des Salons zu und sehr hörbar ward ein Schlüssel umgedreht. Am Boden aber lag die große Photographie von Hortensens Vater, der Rahmen zerbrochen, das Glas zertrümmert und auf dem Bilde ein Blutfleck.

Mon dieu! mon dieu!“ jammerte die entsetzte Dame, „was ist hier geschehen? Pauvre enfant! – Hortense!“ rief sie vor der Schlafstubenthür. „Ich bin’s! Oeffnen Sie, sagen Sie mir Ihren Kummer! Wir haben doch Alles gemeinschaftlich getragen!“ Aber es blieb todtenstill dort innen.




Unterdessen saß Lucie Walter am sauber gedeckten Tisch in der peinlich geordneten Wohnstube ihrer Schwiegermutter, der Frau Steuerräthin Adler, beim Abendessen. Sie saß mit dem vollen Gefühl des Fremdseins und wagte kaum aufzuschauen unter dem musternden Blick der zwei grauen Frauenaugen, die so unablässig jede ihrer Mienen beobachteten. Sie hätte weinen mögen: denn es war Alles so anders als sie gedacht! Sie hatte ein gutes behagliches Schwiegermütterchen erwartet, das sie, die Verwaiste, in die Arme nehmen würde, um sie herzlich abzuküssen. Und nun fühlte sie noch immer die kühle Berührung auf der Stirn, und von diesem Fleck strahlte eine förmliche Kälte durch ihren ganzen Körper und machte sie unfähig, liebenswürdig zu erscheinen.

Vor ihr auf dem Tische stand ein plumpes Bouquet aus Vergißmeinnicht und Goldlack, ein Willkommen des Bräutigams, der leider verhindert war sie zu empfangen, weil er plötzlich über Land geholt worden. Man sah es dem Strauße an, daß er von einer Gemüsefrau auf dem Wochenmarkt bezogen war. – Die Wurstschnittchen waren so unsagbar dünn, der Thee so merkwürdig hellblond, das Dienstmädchen so klein und halbgewachsen und die Mama so auserwählt fein und gemessen mit dem süßsäuerlichen Zug um den Mund! Tante Dettchen, die Schwester des verstorbenen Hausherrn, die auf der andern Seite des jungen Mädchens ihren Platz hatte, war das einzige freundliche Bild in ihrer rundlichen Fülle und mit ihrem gutmüthigen Gesicht. Nachdem Alfred ins Ungebührliche hinaus gelobt worden war und Lucie immer wieder gehört hatte, daß kein Mensch auf der Welt mehr eine gute folgsame, einfache Frau verdiene, als er, nahm Frau Steuerräthin eine frische Tasse Thee und sich in eine noch geradere Positur setzend, begann sie zu ihrer Schwägerin gewendet.

„Und, denke nur, wie unangenehm, liebes Dettchen, da ist Lucie aus Zufall mit der Löwen in einem Koupé gereist.“

Dettchen schien weiter nichts darin zu finden. Sie strich sich ein Butterbrot, das heißt, sie nahm ein unendlich winziges Theilchen Butter und kratzte mit dem Messer auf der ansehnlichen Schnitte energisch umher; Lucie konnte mit dem besten Willen nicht entdecken, auf welcher Stelle die Butter ihren Platz gefunden. „O! Ach!“ sagte sie kopfschüttelnd.

„Und sie haben mit einander gesprochen!“ fuhr die alte Dame fort.

„Warum auch nicht, beste Klara?“

„Na, ich dächte, man wüßte genug von der Gesellschaft! Dettchen, frage nicht so sonderbar!“

„Da kann doch die Tochter nichts dafür?“

„Die Kinder büßen für die Eltern,“ erklärte eifrig die alte Dame. „Ich weiß mit Bestimmtheit, daß es Alfred sehr unangenehm sein wird, wenn er dieses Zusammentreffen erfährt –. Der Vater ist ein Hans Liederlich, die Tochter eine gefallsüchtiges, unweibliches, hochnäsiges Geschöpf!“

Dettchen widersprach nicht mehr; sie aß ihr Butterbrot.

„Wie hat der Vater in Berlin gelebt!“ eiferte Frau Steuerräthin weiter, „wie ein Fürst! Es ist kein Jude in der ganzen Mark, dem er nicht schuldig wäre. Lucie erzählte mir da vorhin, die Gesellschaft hätte auch einmal bei ihnen gewohnt, sie zogen überall umher und blieben immer so lange, bis er sich vor Gläubigern nicht mehr retten konnte. Dann ging’s wieder in eine andere Stadt, das heißt, der ältere Bruder mußte ihn erst auslösen. Ein paarmal soll er die Geduld verloren haben und der Herr Baron mußte sitzen; aber das ist ja keine Schande. Schulden halber – das ist nobel! Schließlich hat der Bruder noch das junge Ding geheirathet, und den Herrn Vater wollten sie in Amerika kalt stellen; ja wohl! Das ging nicht – das hätte er nicht nöthig! – Der Bruder starb, die junge Frau erbte das Ganze, und nun schwindelt er ihr wer weiß wie große Summen ab. Am liebsten schlachtete er den alten Schwiegervater auch noch ein und das mütterliche Vermögen der Tochter – aber da ist ein Riegel vorgeschoben! Wenn ich nur wüßte, wozu der allmächtige Gott solche Drohnen, solch menschliches Ungeziefer, erschaffen hat!“

„Aber Klara!“ fiel Dettchen der Entrüsteten ins Wort.

„Schweig, Dettchen!“ rief die Schwägerin. „Hat der Unmensch nicht seine Frau todt geärgert? Das weiß jedes Kind hier! Ins Grab hat er sie gekränkt mit seinem Leichtsinn, seiner Treulosigkeit, seiner schlechten Behandlung; aber so etwas wird nicht wie ein Mord bestraft! Und was hat er aus der Tochter gemacht? Eine ganz unnütze Person, die vor Hochmuth toll ist. Wenn man sie auf der Straße grüßt, weiß sie nie, ob sie danken soll, hat eine Art und Weise gleichgültig an den Leuten herunter zu sehen, die – –“

„Aber Schwägerin, weßhalb grüßest Du sie denn?“

„Ich – sie grüßen? Das sollte mir fehlen! Die Räthin Wachsmann hat es mir erzählt, die war einmal bei ihr, um sie für den Frauenverein und die Kleinkinderbewahranstalt anzusprechen. Sie wollte ja recht gern Geld geben, hat sie erklärt, müsse aber bitten, von ihrer persönlichen Betheiligung abzusehen! – Es sind doch andere Leute in unseren Nähverein gekommen und haben die Kinder inspicirt, ob sie sauber gewaschen und gekämmt sind, als Frau von Löwen! Die Frau Landräthin z. B. Und was das Lächerlichste ist: ihre alte Erzieherin ist genau so hochmuthstoll wie sie.“

Die alte Dame schwieg ganz erschöpft, räusperte sich, nahm ein Stückchen Zucker in den Mund und trank ihren Thee. Auf diese Weise versüßte sie eine große Tasse mit einem winzigen Bruchtheilchen.

Tante Dettchen, die kein Wort der Verteidigung hatte, faltete bedächtig ihre Serviette zusammen und fragte, Lucie freundlich ansehend: „Soll ich Dir einmal den Garten zeigen, Kind, damit Dir das Warten auf den Schatz nicht so lang wird? Komm!“

Das junge Mädchen athmete sichtbar auf. Sie wünschte „gesegnete Mahlzeit!“ und schickte sich an, der Tante zu folgen. Da rief die schrille Stimme hinter ihr.

„Hat sie nicht gesagt, wann sie heirathet?“

Lucie wandte sich um. „In vier Wochen, wenn Du Frau von Löwen meinst, Mutter.“

„Na, ich gratulire ihm! Es giebt eben immer Gimpel, die sich einfangen lassen – es passirt den Besten.“

„Komm, Kind,“ mahnte Tante Dettchen, und Lucie folgte ihrer Führerin die steile finstere Holztreppe hinunter über einen winzigen Hof in den Garten.

(Fortsetzung folgt.)



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1887). Leipzig: Ernst Keil, 1887, Seite 7. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1887)_007.jpg&oldid=- (Version vom 6.11.2023)