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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Geschlechtes zu wahren, und drohte, seine Tochter eher in ein Kloster zu schicken, als zuzugeben, daß sie einen Menschen ohne Namen und Familie heirathe. Er blieb unerschütterlich und trotz der Beharrlichkeit des Freiers und der Thränen Gerlinde’s endigte auch diese zweite Werbung mit einem entschiedenen Nein.

Es war nicht besonders schwierig, den Professor Wehlau nach Steinrück zu bringen. Er folgte bereitwillig einer Einladung Michael’s; „zufälligerweise“ hatte Hertha an demselben Tage die Bewohner der Ebersburg eingeladen, aber das glückte nur zur Hälfte. Der Freiherr kam allerdings, um den General nach dem Kriege wiederzusehen, aber er ließ weislich seine Tochter zu Hause.

Die Möglichkeit, in Steinrück dem Menschen zu begegnen, der durchaus sein Schwiegersohn werden wollte und von Gerlinde leider in dieser frevelhaften Absicht unterstützt wurde, veranlaßte ihn zu dieser Vorsichtsmaßregel. Indessen schien der Besuch ohne Störung vorüberzugehen; der Feind, der das Geschlecht derer von Eberstein mit einem bürgerlichen Namen bedrohte, ließ sich nirgends blicken, und der Freiherr, der mit dem General viel von alten Zeiten geplaudert hatte, wo sie Beide noch Waffengefährten waren, befand sich in der vortrefflichsten Stimmung.

Er war augenblicklich allein in dem Erkerzimmer und wandte sich beim Oeffnen der Thür um, in der Meinung, Graf Steinrück, den man für einige Minuten abgerufen hatte, kehre zurück, fuhr aber plötzlich in die Höhe, denn vor ihm stand in Lebensgröße – Professor Wehlau.

Auch dieser stutzte; er wußte offenbar nichts von dem Hiersein seines Gegners und schien in Zweifel, ob er ihn eben so grob behandeln sollte wie bei der letzten Zusammenkunft vor einem Jahr. Für diesmal aber behielt eine menschlichere Regung die Oberhand, und er brummte: „Guten Tag, Herr von Eberstein!“

„Herr Professor Wehlau, Sie hier?“ fragte Eberstein, den Gruß mit einem sehr steifen Kopfnicken erwidernd. „Ich hoffe, Sie haben Ihren Sohn nicht mitgebracht.“

„Nein, der ist drüben in Tannberg.“

„Das freut mich! Meine Tochter ist in der Ebersburg.“

Wehlau zuckte nur die Achseln bei dieser Ankündigung.

„Darüber brauchen Sie sich gar nicht zu freuen. Ich wette darauf, die Beiden stecken doch wieder zusammen, sobald wir den Rücken gewandt haben.“

„Das würde ich mir verbitten,“ sagte Eberstein mit Nachdruck. „Ich habe Gerlinde streng verboten, Herrn Wehlau zu sehen oder zu sprechen.“

„Jawohl, Sie haben ihr auch verboten, an ihn zu schreiben, und mein Hans hat eine ganze Wagenladung von Briefen aus dem Feldzuge mitgebracht. Fräulein Gerlinde wird wohl die gleiche Anzahl besitzen.“

„Das ist ja empörend!“ rief der alte Herr, der zum ersten Male von diesem Ungehorsam Kunde erhielt. „Warum brauchen Sie da nicht Ihre väterliche Autorität? Warum haben Sie Ihrem Sohne überhaupt gestattet, hierherzukommen?“

„Weil er sechsundzwanzig Jahre alt und somit kein Kind mehr ist,“ entgegnete Wehlau trocken. „Da geht es nicht mehr mit dem Einsperren. Sie halten Ihre Tochter freilich unter Schloß und Riegel; ich wollte, ich könnte es mit meinem widerspenstigen Buben eben so machen; aber, freilich, bei dem würde das nichts helfen; der klettert zum Fenster heraus und ist plötzlich mitten in der Ebersburg, und wenn er zum Schornstein hineinkommen sollte. So geht die Geschichte nicht länger, wir müssen ernstliche Maßregeln ergreifen.“

„Ja, das müssen wir!“ stimmte Eberstein bei, indem er mit seinem Stocke energisch auf den Boden stampfte. „Ich werde Gerlinde in ein Kloster schicken, vorläufig als Pensionärin. Da wollen wir doch sehen, ob es dem jungen Herrn gelingt, durch den Schornstein hineinzukommen!“

„Das ist ein sehr vernünftiger Gedanke!“ rief der Professor, der beinahe in Versuchung kam, seinem Gegner freundschaftlich die Hand zu schütteln. „Bleiben Sie fest, Herr von Eberstein! Ich freue mich wirklich, daß Sie bei Ihrem Zustande noch solche Energie besitzen.“

Der alte Herr, der keine Ahnung von der beleidigenden Voraussetzung des Professors hatte, und glaubte, dieser meine sein Gichtleiden, seufzte tief.

„Ja, mein Zustand! Der wird leider alle Tage schlimmer!“

„Sehen Sie das selbst ein?“ fragte Wehlau, indem er einen Stuhl heranzog und sich ganz friedlich niederließ. „An welcher Krankheit ist denn eigentlich Ihr Vater gestorben, Herr Baron?“

„Mein Vater, Oberst Kuno von Eberstein-Ortenau, fiel in der Schlacht bei Leipzig, an der Spitze seines Regiments,“ lautete die mit feierlicher Würde gegebene Antwort.

Wehlau sah etwas erstaunt aus; er schien eine andere Auskunft erwartet zu haben und begann nunmehr ein förmliches Kreuzverhör anzustellen. Er erkundigte sich nach Großvater und Urgroßvater, nach der ersten und zweiten Gemahlin, nach allen Basen und Vettern, sogar nach den Seitenverwandten. Ein Anderer wäre dabei wahrscheinlich ungeduldig geworden, aber Eberstein fand, daß der Professor sich sehr zu seinem Vortheile verändert habe; es that ihm wohl, daß dieser mit so rührender Theilnahme jetzt nach all den Udo’s und Kuno’s und Knnrad’s fragte, die er ihm einst mit so rücksichtsloser Grobheit an den Kopf geworfen hatte. Er ließ seinen Stammbaum nach allen Richtungen hin glänzen und gab bereitwillig Rede und Antwort.

„Merkwürdig!“ sagte Wehlau endlich kopfschüttelnd. „Also in Ihrer ganzen Familie ist kein einziger Fall von Gehirnkrankheit vorgekommen?“

„Gehirnkrankheit?“ wiederholte Eberstein beleidigt. „Was fällt Ihnen denn ein? Das ist wohl Ihr specielles Fach, daß Sie fortwährend danach suchen? Nein, die Eberstein sind an allen möglichen Krankheiten gestorben, aber mit Gehirnleiden haben sie nie etwas zu thun gehabt.“

„Das scheint wirklich so – sollte ich mich doch am Ende geirrt haben?“ murmelte der Professor. Er brachte jetzt das Gespräch auf die Familienchronik, auf die Abstammung der Eberstein aus dem zehnten Jahrhundert, aber vergebens; der Freiherr antwortete vollkommen klar und vernünftig, und zuletzt faltete er die Hände und sagte in schmerzvoll bewegtem Tone:

„Ja wohl, mein altes, edles Geschlecht, das neun Jahrhunderte lang in der Geschichte genannt worden ist, und mit Ehren genannt – es geht mit mir zu Grabe! Ob Gerlinde nun unvermählt bleiben oder einem Gatten folgen mag; mit mir stirbt der Name, und er wird bald sterben, wie meine alte Ebersburg auch bald in Trümmer fällt. Das heutige Geschlecht weiß ja nichts mehr, will ja nichts mehr wissen von dem Ruhm und Glanz der alten Zeiten, und ich habe keinen Sohn, der die Erinnerung daran wahren könnte. Ueber meinem Sarge wird man das Wappen meines Hauses zerbrechen und mir in die Gruft nachwerfen mit dem letzten düsteren Ruf: Freiherr von Eberstein-Ortenau – heute noch und nimmer mehr!“

Es sprach ein so tiefer, bitterer Schmerz aus diesen Worten, daß Wehlau plötzlich ernst wurde und mit einer Bewegung, deren er nicht Herr werden konnte, auf den Greis blickte, dem ein paar Thränen über die eingefallenen Wangen rollten. Der Mann der Wissenschaft, der Gegenwart hatte den Stolz des Adligen auf seine Vorfahren nie verstanden und nie gelten lassen; aber er verstand den Schmerz des alten Mannes, der um den Untergang seines Geschlechtes klagte, der trotz all seines Sträubens doch den ehernen Schritt der Neuzeit fühlte, welche hundertjährige Spuren zertrat und verwischte für immer. In diesem Augenblick fiel alles Lächerliche ab von Udo von Eberstein; es wurde ausgelöscht von dem tragischen Ernst einer untergehenden Welt- und Lebensanschauung, der das Urtheil gesprochen war mit diesem: „Heute noch – und nimmer mehr!“

Einige Sekunden lang herrschte tiefes Schweigen; dann bot der Professor plötzlich seinem bisherigen Gegner die Hand.

„Herr von Eberstein, ich habe Ihnen Unrecht gethan! Unsereins kann ja auch einmal irren, und es lag wirklich sehr viel Sonderbares in Ihrer – genug, ich leiste Abbitte!“

Der alte Herr war weit entfernt, zu ahnen, worauf sich diese Abbitte eigentlich bezog; er glaubte, sie gelte der bisher an den Tag gelegten Mißachtung des Eberstein’schen Geschlechtes, und es that seinem Herzen wohl, daß der eigensinnige rücksichtslose Gelehrte sich jetzt so rückhaltlos bekehrt zu haben schien. Er ergriff daher die dargebotene Hand und drückte sie herzlich.

Da kam Michael in größter Eile und Bestürzung. Man hatte jetzt erst in Erfahrung gebracht, daß die beiden alten Herren, die man mit der größten Vorsicht einander nähern wollte, sich allein im Zimmer des Generals befanden. Wahrscheinlich geriethen sie wieder an einander, und Hauptmann Rodenberg kam

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 916. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_916.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2022)