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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

„Also Dein Großvater ist auch dort?“

„Seit acht Tagen. Er hat einen längeren Urlaub nehmen müssen, denn die Strapazen des Feldzuges haben ihn doch sehr angegriffen. Ich setze meine ganze Hoffnung auf die stärkende Bergluft.“

Der junge Künstler schüttelte den Kopf und sagte plötzlich ernst werdend:

„Der General ist sehr verändert. Ich erschrak förmlich, als ich ihn wiedersah. Freilich, ein schwerer Feldzug in solchem Alter und dann noch der jähe schreckliche Tod seines Enkels – es läßt sich begreifen! Aber ich glaube, Du stehst seinem Herzen trotz alledem näher, als Graf Raoul je gestanden hat.“

„Vielleicht! Aber in solchem Alter überwinden sich Schicksalsschläge schwer,“ sagte Michael ausweichend. Er wußte, was sein Großvater nicht überwinden konnte, aber das blieb ein Geheimniß zwischen ihnen Beiden.

Hans plauderte weiter, erhielt aber immer kürzere und zerstreutere Antworten; sein Freund schien gar nicht mehr auf ihn zu hören; er schaute immer nur nach dem Schlosse, und plötzlich fuhr er auf und zog sein Taschentuch hervor, das er hoch in der Luft flattern ließ.

„Was hast Du denn?“ fragte Hans. „Ah so, da oben flattert ein anderes Tuch, und wahrhaftig, da steht auch Gräfin Hertha auf dem Altan! Ja, schön ist sie freilich, Deine goldhaarige Märchenfee da oben in der leuchtenden Mittagssonne! Mit ihr kann sich mein Dornröschen nicht messen, und meine Braut hat auch nicht verschiedene Millionen, nur einen obstinaten Papa. Aber dafür ist ihr Geschlecht volle zweihundert Jahre älter als das der Steinrück. Vergiß das nicht, Michael! Im Mittelalter hat meine künftige Frau ganz entschieden den Vortritt vor der Deinigen.“

Der Wagen fuhr endlich in den Schloßhof, viel zu langsam für die Ungeduld des jungen Officiers, der jetzt den Schlag aufriß, hinaussprang und die Außentreppe hinaufstürmte. Hertha erschien oben auf den Stufen, und in Gegenwart der Diener küßte Michael seine Braut. Es war das erste Mal, daß er sie öffentlich so begrüßte.

„Und das muß man nun mit ansehen und kann es nicht nachmachen, nur weil man einen unvernünftigen Papa und dito Schwiegerpapa hat!“ grollte Hans, indem er langsamer ausstieg.

„Aber wartet, meine Herren Väter! Ich spiele Euch einen Streich, daß Ihr Euch auf Gnade und Ungnade ergeben sollt.“

In dem getäfelten Gemach, mit dem breiten Erkerfenster, wo die Ahnenbilder von den Wänden blickten und das Wappen der Steinrück über dem Kamin prangte, befand sich Graf Michael mit seinem Enkel, den er hier an dieser Stelle zum ersten Mal gesehen und dem er auch hier die furchtbare Beschuldigung des Diebstahls zugeschleudert hatte. Das Schicksal hatte die Vergeltung dafür übernommen, und man sah es, wie schwer der General daran trug.

Er hatte sich in der That sehr verändert und schien in den zwölf Monden um eben so viele Jahre gealtert zu sein. So lange der Feldzug währte, hielt ihn die Pflicht des Soldaten, des Führers, dem eine so schwerwiegende Verantwortung zufiel, noch aufrecht, und er zwang Geist und Körper mit der alten Willenskraft. Aber mit der Pflicht ging auch seine Kraft zu Ende. Die Züge des einst so schönen Greisenantlitzes waren hohl und tief geworden; aus den Augen war das Feuer geschwunden, selbst die Haltung erschien müde und gebeugt. In diesem Augenblick freilich ruhte sein Auge mit dem Ausdruck der tiefsten, innersten Genugthuung auf seinem Enkel, dessen Hand er noch in der seinigen hielt.

„Ich denke, Du kannst zufrieden sein mit Deinen Erfolgen,“ sagte er. „Es ist selten, daß man einen so jungen Officier mit solchen Auszeichnungen überschüttet, wie sie Dir zu Theil geworden sind, aber ich gebe Dir das Zeugniß, daß sie verdient sind. Was Du im Felde geleistet hast, das übertraf selbst meine Erwartungen, und ich habe viel erwartet von meinem Michael!“

„Vielleicht wäre die Anerkennung nicht so überschwenglich gewesen, wenn sie nicht gerade dem Enkel des kommandirenden Generals gegolten hätte,“ entgegnete Michael mit einem flüchtigen Lächeln. „Von dem Augenblick an, wo Du mich als Deinen Blutsverwandten einführtest, umgab man mich mit ganz besonderer Aufmerksamkeit; ich habe es nur zu gut gefühlt.“

„Gleichviel, die Anerkennung ist errungen, nicht bloß gegeben, und Hertha hat allen Grund, auf ihren Kriegshelden stolz zu sein. Seid Ihr über den Zeitpunkt der Vermählung schon einig geworden?“

„Noch nicht! Hertha läßt sich da von Rücksichten bestimmen, denen ich mich vielleicht auch beugen muß, so schwer es mir wird. Vor der Welt ist ihre Verlobung mit Raoul ja nie gelöst worden, und das Trauerjahr ist soeben erst zu Ende gegangen. Wir wollten Dir die Entscheidung überlassen, Großvater. Wenn Du meinst, daß wir noch einige Monate warten sollen –“

„Nein!“ erklärte Steinrück mit Bestimmtheit. „Es ist ja bereits beschlossen, daß die Trauung in aller Stille stattfinden soll, und ich möchte gern selbst noch Eure Hände in einander legen. In einigen Monaten – dürfte es zu spät sein.“

„Großvater!“ sagte Michael halb bittend, halb vorwurfsvoll.

„Soll ich nicht einmal zu Dir davon sprechen? Du bist ja doch ein Mann und mußt dem Unvermeidlichen ins Auge sehen.“

„Es ist aber nicht unvermeidlich. Wenn Du Dich nur aus dieser Schwermuth emporraffen wolltest, die an Deinem Leben zehrt. Hat denn Raoul alle Lebensfreude mit in das Grab genommen? Ich bin Dir doch zur Seite mit meiner Hertha, und wir helfen Dir, die Vergangenheit zu überwinden.“

Der General schüttelte langsam verneinend den Kopf.

„Du weißt am besten, was Du mir bist, Michael; aber meine Kraft ist nun einmal gebrochen, und Du kennst auch die Stunde, in der sie brach. Der Axthieb ging dem alten Baume an die Lebenswurzel; er kann nicht mehr gesunden!“

Michael schwieg; er mochte die Wahrheit dieser Worte fühlen, Wenn die schließliche Aufklärung auch das Furchtbarste gemildert hatte: es blieb noch genug bestehen, um den Stolz und die Ehre des Grafen von Steinrück, der von jeher mit ganzer Seele seinem Vaterlande angehört hatte, bis auf den Tod zu verwunden. Und er war ein Greis; ihm stand keine Jugendkraft mehr zur Seite, die solchen Schlägen Stand hält.

„Also Gräfin Hortense ist wieder bei ihrem Bruder – mit Deiner Einwilligung?“ fragte Rodenberg, nach einer kurzen Pause ablenkend.

„Ja. So lange der Krieg währte, konnte und durfte ich nicht zugeben, daß die Wittwe meines Sohnes in Frankreich weilte. Jetzt fällt diese Rücksicht für uns Beide fort; sie kehrt zu Montigny zurück. Hier ist sie ja doch stets eine Fremde gewesen, und mit dem Tode Raoul’s ist das einzige Band, das uns noch verknüpfte, zerrissen. Ich habe ihr die Unabhängigkeit gesichert, so weit das in meinen Kräften stand. Du kennst ja die Bestimmungen meines jetzt geänderten Testaments. Das Majorat geht nach meinem Tode in andere Hände über, es haftet an der männlichen Linie unseres Hauses. Schloß Steinrück fällt Dir als meinem einzigen Erben zu, und mit Hertha’s Hand wird auch der ganze große Familienbesitz Dein, den ich um jeden Preis meinem Enkel sichern wollte. Das ist geschehen, wenn auch auf andere Weise, als ich dachte, und es ist besser so! Du wirst ihn wahren und schirmen und wirst auch Hertha schirmen mit Deinem starken Arm, ich weiß es – Gott segne Euch Beide!“ –


Es war kein bloßer Zufall gewesen, daß Hans Wehlau seinen Freund begleitete. Er verband mit diesem Besuche den etwas egoistischen Zweck, die Braut Michael’s als Bundesgenossin für den letzten entscheidenden Sturm auf Vater und Schwiegervater zu gewinnen. Dieser Sturm konnte nur in Steinrück versucht werden; denn es war der einzige Ort, wo Gerlinden’s Vater, der alte menschenscheue Sonderling, noch bisweilen verkehrte, und wo die Möglichkeit gegeben war, ihn mit dem Professor Wehlau zusammenzubringen, der sich augenblicklich wieder zum Besuche bei den Verwandten in Tannberg befand.

Hertha hatte allerdings von Anfang an auf Seiten der Jugendfreundin gestanden und alles Mögliche gethan, um den alten Freiherrn umzustimmen; aber es war vergebens gewesen, eben so wie die erneute Werbung, die Hans wenige Tage nach seiner Ankunft unternahm. Er hatte umsonst die Uniform angezogen, die kriegerische Pracht des neunzehnten Jahrhunderts machte gar keinen Eindruck auf das zehnte. Udo von Eberstein war nun einmal entschlossen, den ganz reinen Stammbaum seines

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 915. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_915.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2022)