Seite:Die Gartenlaube (1886) 900.jpg

Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Worte! Soll ich Gewalt brauchen? Mein Schuß ruft das ganze Haus herbei.“

Er stand da, die Pistole in der erhobenen Rechten, ohne einen Blick von dem Gegner zu verwenden, der nun wohl einsah, daß sein Spiel verloren sei. Clermont war kein Feigling im gewöhnlichen Sinne des Wortes; aber er wußte, daß er den Kampf mit diesem Manne nicht aufnehmen konnte, und seine letzte Waffe, die Betheiliguug Raoul’s an dem Verrathe, wurde ihm aus der Hand gewunden. Er glaubte in der That, Raoul selbst habe die Entdeckung herbeigeführt. Nach einem Augenblick des Zögerns zog er langsam die Papiere hervor, die er auf der Brust verborgen hatte, und reichte sie dem Hauptmanne, der sie in Empfang nahm, ohne seine drohende Stellung aufzugeben.

„Ziehen Sie sich an das Fenster zurück,“ befahl er. „Ich werde prüfen, ob das Packet unversehrt ist.“

Clermont gehorchte und trat an das Fenster, wohin sich Heloise längst geflüchtet hatte. Michael riß den Umschlag ab, der die Adresse des Generals trug und augenscheinlich geöffnet worden war. Die Aufschrift der Papiere verrieth deren Inhalt; aber die Siegel selbst waren unverletzt, und nach einer kurzen, aber scharfen Prüfung steckte er sie zu sich.

Henri hatte inzwischen seiner Schwester etwas zugeflüstert, die sich jetzt scheu und zögernd dem jungen Officier näherte.

„Herr Hauptmann – wir sind in Ihren Händen.“

Die Worte klangen flehend, angstvoll, aber als sie vor dem Hauptmann stand und das Auge zu ihm emporhob, da traf auch ihn jenes seltsame, blitzartige Aufsprühen, das den Männern so gefährlich war und das Raoul ins Verderben gezogen hatte, aber hier traf es auf einen Eisesblick.

„Der Weg zum Bahnhofe steht Ihnen und Ihrem Bruder frei,“ sagte Michael kalt. „Ich lege Ihrer Abreise kein Hinderniß mehr in den Weg, aber ich hoffe, Sie werden in Zukunft ein anderes Land als das deutsche mit Ihrer Thätigkeit beglücken, gnädige Frau.“

Heloise zuckte zusammen; eine Drohung hätte sie nicht so verletzt wie dieser grenzenlos verächtliche Ton.

Als Rodenberg die Treppe wieder herunter kam, trat ihm sein alter Lehrer entgegen, der ihn hier erwartet hatte.

„Michael, um Gotteswillen, was geht droben vor? Gräfin Hertha ist in Todesangst, und ich bin es mit ihr; aber wir wagten nicht, Dir zu folgen.“

„Beruhigen Sie Hertha, sagen Sie ihr, ich käme sogleich! Ich habe nur noch Eins zu erledigen und bin in fünf Minuten bei ihr.“

Er warf dem Pfarrer die Worte nur im Vorbeieilen zu und schritt dann durch das Gastzimmer nach dem kleinen Gemach, wo er Raoul noch fand.

Der junge Graf saß am Tische, den Kopf auf die Arme gelegt, in der Stellung eines völlig Gebrochenen. Er sah wohl auf, als der Hauptmann eintrat; aber es lag eine seltsame Starrheit und Leblosigkeit in seinen Zügen.

„Die drohende Gefahr ist beseitigt!“ sagte Michael. „Clermont und seine Schwester waren, durch irgend einen Zufall zurückgehalten, noch hier im Hause. Ich habe die Herausgabe des Raubes von ihnen erzwungen und glaube für ihr Schweigen bürgen zu können. Man giebt der Welt nicht gescheiterte Pläne preis, bei denen man eine so schmachvolle Rolle spielt, und von unserer Seite werden sie unbehelligt bleiben. Wir haben leider Grund, sie zu schonen, um der Ehre des Namens Steinrück willen. Der Name ist jetzt gerettet und Ihrer Rückkehr nach Hause steht nichts im Wege, Graf Raoul; man wird überhaupt nie erfahren, daß die Papiere in anderen Händen gewesen sind. Ich gebe noch in dieser Stunde meinem Großvater telegraphisch Nachricht, und morgen früh reise ich ab, um ihm selbst das Vermißte zu bringen – das war es, was ich Ihnen mittheilen wollte.“

Raoul hörte wie betäubt den Worten zu, die eine so furchtbare Last von seiner Seele nahmen; doch die unheimliche Starrheit wich nicht aus seinen Zügen. Er schien reden, vielleicht einen Dank aussprechen zu wollen; aber die eisige, tödliche Verachtung in dem Blick und der Haltung seines Vetters schloß ihm die Lippen. „Mein Großvater!“ das klang so selbstverständlich, so siegesgewiß. Freilich, Graf Michael hatte ja jetzt den Enkel gefunden, der Blut von seinem Blute war. Die Beiden gehörten zusammen und nach dieser That würde er ihm vollends die Arme öffnen.

Als Rodenberg gegangen war, erhob sich auch der junge Graf und verließ langsam mit wankenden Schritten das Gemach. Draußen vor der Thür legte er, wie sich besinnend, die Hand an die Stirn, trat aber scheu zurück in den Schatten der Mauer, als Leute aus dem Hause kamen. Er erkannte die beiden Gestalten, die an ihm vorüberhuschten und den Weg nach dem Bahnhofe einschlugen; aber er gab durch keinen Laut, keine Bewegung seine Anwesenheit kund. Die Nähe der Frau, die noch vor Kurzem sein ganzes Wesen in Flammen zu setzen wußte, machte jetzt kaum noch einen Eindruck auf ihn. Er wußte, daß sie ihm auf immer entschwand, und fühlte nicht einmal Schmerz dabei. In ihm war Alles so leer und todt, als sei jede Empfindung erstorben.

Da klang aus dem geöffneten Fenster über ihm eine Stimme nieder, die er erst vor wenigen Minuten gehört hatte; jetzt freilich klang sie in glühender Zärtlichkeit:

„Meine Hertha, vergieb, daß ich Dich so stürmisch verließ, ich mußte mir die Abschiedsstunde ja erst erkämpfen. Jetzt darf ich bei Dir bleiben, ohne eine Pflicht zu verletzen, aber keine Abschiedsthränen – noch sind wir ja beisammen!“

Und nun tönte eine andere Stimme, die der Lauschende gleichfalls kannte, und die ihm doch fremd erschien in dem weichen süßen Klange der hingebendsten Liebe, den er freilich nie vernommen hatte:

„Nein, Michael, Du sollst keine Thräne sehen! Ich will jetzt nur daran denken, daß Du da bist – das ist ja schon ein Glück!“

War das wirklich noch die frühere Hertha? Freilich, sie hatte ja lieben gelernt, und der Mann, der einst ihr Verlobter hieß, fühlte jetzt doch, was er hingeopfert hatte. Es zog ihn gewaltsam fort aus der Nähe der Glücklichen; er ging vorwärts, planlos und ziellos, immer weiter hinein in die Dunkelheit, immer an dem brausenden Flusse entlang, bis eine Mauer seinen Weg hemmte. Es waren die Pfeiler der Brücke, auf deren Bogen die Eisenbahn dahinging hoch über dem Flusse; hier unten rauschten die Wellen, und eine alte Weide tauchte ihre Zweige tief hinein.

Die Luft lastete noch immer schwer und schwül, aber das Wetter war näher gekommen; es leuchtete immer häufiger auf und immer greller zuckten die Blitze. Raoul lehnte sich an den Stamm der Weide und starrte unverwandt in das dunkle, strudelnde Wasser; er hatte Mühe, sich zum klaren Denken zu zwingen.

Was nun? Nach Hause zurückkehren? Er konnte morgen wieder dort sein, und es fand sich auch wohl ein Vorwand für seine kurze Abwesenheit. Niemand wußte, was geschehen war, außer Zweien, und die schwiegen um der Ehre des Namens Steinrück willen; aber der letzte Steinrück fühlte es doch, daß er seinem Großvater nun und nimmer mehr wieder unter die Augen treten könne. Dem Landesverräther hatte der eiserne Greis das Urtheil bereits gesprochen; der Schwächling, der den Verrath zuließ, der ihn verschwieg und deckte um eines Weibes willen, durfte ihm nicht wieder nahen. Raoul hatte ihn ja schon heute gesehen, diesen Blick voll eisiger, tödlicher Verachtung, und den würde er wiedersehen in dem Antlitz seines Großvaters Tag für Tag – lieber den Tod, als das ertragen!

Vom Bahnhofe herüber scholl Hurrahrufen, dem lauter Jubel antwortete. Die Menge grüßte die Truppen, die sich jetzt wohl zur Abfahrt rüsteten, und dort, hinter den matt erhellten Fenstern, nahm auch ein junger Krieger Abschied von seiner Braut, vielleicht auf Nimmerwiedersehen. Aber hier unten stand Einer, der Alles verloren hatte, Braut und Ehre und sogar – das Vaterland!

Der Militärzug brauste heran, und gerade als er die Brücke erreichte, flammte es wieder auf am Himmel. Einen Augenblick lang stand Alles im zuckenden, blendenden Lichte, die schweren, drohenden Wolkenmassen, die fernen, dunklen Berge und der schäumende Fluß; aber der Platz unter der alten Weide war leer und die Wellen spritzten hoch auf. Es war nur ein Moment, dann versank Alles wieder in Nacht, der Zug donnerte über die Brücke und im Westen blitzte es noch einmal auf mit leuchtenden, Strahle – das Flammenschwert Sankt Michael’s!

(Schluß folgt.)




Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 900. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_900.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2022)