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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

die unter anderen Umständen sehr ungeduldig und empört gewesen wäre, wenn man ihr auch nur für eine Nacht derartige Umgebungen zugemuthet hätte, die sie jetzt ohne ein Wort der Unzufriedenheit hinnahm.

„Es wäre aber gar nicht nothwendig gewesen,“ wandte er ein. „Michael schrieb Ihnen ja ausdrücklich, daß er erst übermorgen mit seinem Regimente die Stadt passiren und Ihnen jedenfalls vorher noch ein Telegramm senden würde. Bis dahin hätten wir ruhig in Berkheim bleiben können.“

Hertha schüttelte verneinend das Haupt.

„Berkheim ist volle vier Stunden entfernt; jene Bestimmung kann geändert werden, das Telegramm sich verzögern und ich könnte zu spät eintreffen. Nur hier erfahre ich mit voller Gewißheit, wann das Regiment wirklich eintrifft. Schelten Sie nicht, Hochwürden! Ich muß Michael Lebewohl sagen, mit dem Gedanken, daß er vielleicht in den Tod geht – da ist selbst die bloße Möglichkeit des Verfehlens schrecklich.“

Valentin sah nicht aus, als ob er schelten wolle; aber im Stillen bewunderte er doch die Macht, die Michael über das stolze eigenwillige Mädchen gewonnen hatte.

„Ich danke dem Himmel, daß es mir wenigstens vergönnt war, Sie zu geleiten,“ sagte er. „Der Pfarrer von Tannheim war auf meine Bitte sofort bereit, mir seinen Kaplan zu senden, der mich einstweilen vertritt. Ich bringe Sie jedenfalls noch nach Berkheim zurück.“

Die junge Gräfin reichte ihm mit inniger Dankbarkeit die Hand.

„Ich habe ja auch Niemand als Sie allein! Mein Vormund zürnt mir, wie ich es freilich voraussah. Er hat meinen Brief nicht einmal beantwortet, und Tante Hortense war so außer sich, als sie die ganze Wahrheit und meine Verlobung mit Michael erfuhr, daß ich nach dieser Scene um keinen Preis länger in Steinrück geblieben wäre, wie wehe es mir auch that, so schnell von der Gruft meiner Mutter zu scheiden. – Ich bedauere nur, daß ich auch Ihnen so viel Anstrengungen und Unannehmlichkeiten zumuthen muß, Hochwürden. Ich fürchte, man hat Sie noch weit schlechter einquartiert als mich.“

„Für den Augenblick habe ich ein Kämmerchen im Erdgeschoß, das allerdings nicht sehr einladend ist,“ sagte Valentin lächelnd. „Der Wirth hat mir aber das Giebelzimmer im oberen Stock für die Nacht zugesagt, da die Fremden, welche es augenblicklich inne haben, schon mit dem Abendzuge abreisen. Die Zeit dürfte nun wohl herangekommen sein, und ich werde jetzt bei ihm anfragen.“

Er erhob sich und ging hinaus; auch Hertha stand auf und trat an das Fenster, das sie öffnete. Der Tag war glühend heiß gewesen, und auch der Abend brachte keine Kühlung. Es lagerte dumpf und gewitterschwül über der Erde. Kein Stern funkelte an dem dichtbewölkten Himmel, aber am Horizont blitzte von Zeit zu Zeit ein Wetterleuchten auf, das ferne, dunkle Bergzüge entschleierte. Von drüben her blinkten die Lichter des Bahnhofes, und dicht am Hause vorüber zog der Fluß, der aus dem Dunkel zu kommen und sich wieder in die Nacht zu verlieren schien. Nur das Rauschen und Strudeln der Wellen gab Kunde von seinem Dasein.

Die junge Gräfin lehnte die heiße Stirn an die Mauer; sie wollte standhaft sein. Michael sollte keine Verzweiflung sehen, die ihm den Abschied noch schwerer machte; aber jetzt war sie ja allein und durfte weinen. Der Tod der Mutter, der Kampf mit ihrer Familie: das Alles ging unter in der bebenden Angst um den Geliebten, den sie vielleicht nur gewonnen hatte, um ihn wieder zu verlieren.

Da ertönten Stimmen dicht unter dem Fenster. Vor der Hausthür stand der Wirth mit einem Fremden, und Hertha vernahm, daß von dem versprochenen Zimmer die Rede war. Der Wirth erkundigte sich höflich, wann die Herrschaften abzureisen gedächten; es warte schon Jemand auf ihr Zimmer, und der Fremde entgegnete, er habe soeben auf dem Bahnhofe erfahren, daß der Abendzug zwei Stunden später abgehe; so lange werde er noch mit seiner Dame bleiben. Die Stimme machte die junge Gräfin aufmerksam. Sie kannte dies ziemlich geläufige, aber mit einer fremdartigen Betonung gesprochene Deutsch, und jetzt erkannte, sie auch, beim Scheine der vor dem Eingange brennenden Laterne, den Sprechenden, Henri Clermont, der jedenfalls mit seiner Schwester auf dem Rückwege nach Frankreich war, da er von seiner Dame sprach.

Mit einer peinlichen Empfindung trat Hertha vom Fenster zurück. Bis vor Kurzem waren ihr die Beiden nur oberflächliche Bekannte gewesen, mit denen sie hier und da flüchtig zusammentraf. Erst in der letzten Zeit hatte sie von den Beziehungen der Frau von Nérac zu ihrem früheren Verlobten erfahren. Wenigstens ließ sich jetzt eine zufällige Begegnung vermeiden, und die junge Gräfin beschloß, in den nächsten zwei Stunden ihr Zimmer nicht zu verlassen.

Drüben auf dem Bahnhofe herrschte inzwischen noch Lärm und Leben, trotz der späten Stunde. Züge kamen und gingen: Signale wurden gegeben, und der Perron war dicht gefüllt mit Reisenden und Nichtreisenden, die da fragten, warteten oder zu einem unfreiwilligen Aufenthalte verurtheilt waren.

Dies letzte Schicksal hatte auch die Insassen des Personenzuges getroffen, der vor einer halben Stunde angelangt war, allerdings auch schon mit mehrstündiger Verspätung. Man hatte ihnen eröffnet, daß es vorläufig nicht weiter ginge, da außer dem Militärzuge, der soeben heranbrauste, noch andere Truppen erwartet würden, und daß sie warten müßten, bis die Bahn wieder frei sei. Sie hatten sich denn auch geduldig in die Nothwendigkeit gefunden, bis auf einen einzigen Passagier, der die Verzögerung sehr schwer zu empfinden und große Eile zu haben schien. Er hatte eine einsame, halbdunkle Stelle des Bahnhofes aufgesucht und ging nun hier mit allen Zeichen einer brennenden Ungeduld auf und ab, während er alle fünf Minuten die Uhr hervorzog. Plötzlich jedoch blieb er stehen und trat noch weiter in den Schatten zurück; denn ein Officier, der mit jenem Militärzuge gekommen war, schritt im Gespräch mit dem Inspektor des Bahnhofes gerade nach jener Stelle.

„Also der Kurierzug ist ohne besonderen Aufenthalt passirt?“ fragte er. „Aber der Personenzug, der heute Mittag abging, mußte liegen bleiben? Sind die Reisenden noch sämmtlich hier?“

„Gewiß, Herr Hauptmann,“ versetzte der Beamte. „Sie warten auf die Weiterbeförderung, aber damit hat es noch gute Wege.“

Der einzelne Reisende schien die Stimme zu kennen und eine Begegnung vermeiden zu wollen, denn er wandte sich hastig nach einer anderen Richtung. Aber gerade diese Bewegung verrieth ihn dem Officier, dessen scharfe Augen das Halbdunkel durchdrangen. Er rief dem Beamten einen flüchtigen Dank zu und holte mit wenigen Schritten den Fremden ein, dem er geradezu den Weg vertrat.

„Graf Raoul Steinrück!“

Dem jungen Grafen war das Zusammentreffen sehr unerwünscht; das sah man, aber er hielt es für ein rein zufälliges – der Officier war mit seinem Regimente jedenfalls auf dem Wege nach dem Kriegsschauplatze. So blieb er denn stehen und fragte schroff: „Sie wünschen, Hauptmann Rodenberg?“

„Ich wünsche zunächst, Sie unter vier Augen zu sprechen.“

„Ich bedaure, ich habe Eile.“

„Ich auch! Aber ich hoffe, wir können die betreffende Sache in der Kürze abmachen.“

Raoul zögerte noch einen Augenblick, dann rief er dem Beamten, der noch in der Nähe stand, zu:

„Wie lange wird der Aufenthalt des Personenzuges dauern?“

„Mindestens noch eine Stunde,“ versetzte der Inspektor achselzuckend, indem er weiter ging. Raoul wandte sich zu Rodenberg:

„Gut, ich bin bereit, aber hier auf dem Bahnhofe, wo jedes Wort gehört wird, können wir doch nicht –“

„Nein, aber dort drüben liegt ein kleines Gasthaus, das wir aufsuchen können; es ist in unmittelbarer Nähe.“

„Wenn die Sache sich nicht aufschieben läßt – meinetwegen! Ich bitte aber kurz zu sein, da ich, wie Sie sehen, weiter will,“ sagte der junge Graf hochmüthig, indem er sich nach der bezeichneten Richtung wandte. Michael folgte ihm auf dem Fuße, ohne ihn einen Moment aus den Augen zu lassen; er schien jedoch etwas überrascht durch diese Fügsamkeit.

Sie traten in das Haus und in die öde, halbdunkle Gaststube, wo sich Niemand mehr befand. Der Wirth führte sie in das anstoßende kleine Gemach, das für vornehmere Gäste bestimmt zu sein schien. Er brachte ein Licht, erkundigte sich nach dem Begehr der Herren und verschwand dann. Die Beiden waren allein.

Raoul stand in der Mitte des Zimmers. Er war todtenbleich; seine Augen brannten wie im Fieber, und so sehr er sich

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 895. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_895.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2022)