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Gefrierpunkt steht, bedeutende Uebel, sogar mit tödlichem Ausgang zu Stande kommen, wenn die Menschen blutarm, schlecht genährt, verweichlicht oder geistig niedergedrückt sind. Greise, Kinder, bleichsüchtige Mädchen, Säufer, namentlich Branntweintrinker, Leute, welche einen schlechten Herzmuskel haben, bekommen leicht Frostbeulen und erfrieren sogar sehr schnell, wenn sie bei starker Kälte müde und schläfrig werden. Es tritt alsbald ein Zustand von Betäubung ein, und sobald sie sich dann niedersetzen, um auszuruhen, schlafen sie ein und erwachen meist nicht mehr. Lange Zeit hindurch verbleiben sie in scheintodtem Zustande, athmen noch ein ganz klein wenig, und auch ihr Herz macht noch leise Anstrengungen, etwas Blut hin und her zu treiben.

Gerade diese Herzbewegung ist es auch, welche den Scheintod so lange erhält. Sie übt auf die Lungen einen leisen Druck aus und bewirkt dadurch eine Art künstliche Athmung, welche aber so gering ist, daß Laien und selbst Aerzte Erfrorene oftmals für todt halten.

Als Napoleon I. von Rußland nach Frankreich zurückgekehrt war, wurde es ihm zur Gewißheit, daß viele seiner Soldaten scheintodt begraben worden waren, und er setzte einen großen Preis aus für das sicherste Mittel, den Scheintod von dem wirklichen Tod zu unterscheiden. Den Preis erhielt Professor Andral, welcher behauptete, das Behorchen der Herztöne mit dem Stethoskop (Hörrohr) sei das sicherste Mittel, um Scheintod von wahrem Tod zu unterscheiden, weil man hiermit das Auspannen der Herzklappen noch zu einer Zeit hören könne, wo alle anderen Üntersuchungsmethoden kein Lebenszeichen mehr nachweisen würden. Napoleon’s Preis würde aber eigentlich dem deutschen Professor Middeldorpf in Breslau gebührt haben, der mit seiner Akidopeirastik (Nadeluntersuchung) noch Lebenszeichen nachwies, nachdem man mit Andral’s Stethoskop schon lange keinen Herzklappenton mehr gehört hatte.

Auch heut zu Tage ist Middeldorpf’s Akidopeirastik noch die sicherste Methode, den Scheintod zu erkennen; sicherer als der Fußsohlenschnitt und das Brennen mit Siegellack und alles Andere. Man stößt eine lange Stecknadel zwischen fünfter und sechster Rippe in das Herzfleisch, was bis zu einer gewissen Tiefe ganz ungefährlich geschehen kann. Die Nadel ist so lang, daß ungefähr die Hälfte derselben außerhalb der Brust sichtbar ist.

Die leiseste Bewegung des Herzens erzeugt ein Zittern jener Nadelhälfte, die außerhalb der Brust sichtbar ist.

Doch darf Niemand glauben, daß die scheintodt beerdigten Napoleon’schen Soldaten etwa im Grabe erwacht seien. So sicher es ist, daß man durch sorgfältige Pflege eine große Anzahl derselben hätte retten können, eben so sicher kann man behaupten, daß ihre Erstarrung, wenn keine sorgfältigen Belebungsversuche gemacht wurden, ununterbrochen in den wahren Tod überging.

Leider weiß man heute noch nicht, wie lange bei Erfrorenen dieser Scheintod dauern kann, ob fünf bis sechs Tage, wovon viele Beispiele existiren, oder ob noch viel länger.

Wir haben schon im Eingang auf den verderblichen Einfluß einer unvorsichtigen Erwärmung bei Erfrorenen hingewiesen. Wird dieselbe zu rasch bewerkstelligt, so tritt eine so heftige Reaktion ein, daß die Behandelten daran sicher zu Grunde gehen.

Gefrorenes und wieder aufgethautes Blut ist zwar noch roth, aber lackfarben. Der Blutfarbstoff hat sich von den Blutzellen getrennt. Solches aufgethaute Blut erzeugt im normalen Blute Gerinnungen, und man kann sogar ein gesundes Thier tödten, wenn man aufgethautes Blut in seine Gefäße spritzt. Anders aber gestaltet sich der Vorgang bei Erfrorenen, welche sehr langsam erwärmt und belebt werden.

Wird eine ganz kleine Menge des erfrorenen Blutes wieder aufgelöst und dem Organismus zugeschwemmt, so wird derselbe diese kleine Menge Gift überwinden.

Aus diesem Grunde darf auch, wenn man bei Erfrorenen Wiederbelebungsversuche anstellt, die Erwärmung und Flüssigmachung der Säfte nur langsam vor sich gehen. Am besten legt man Erfrorene in Schnee und reibt sie mit Schnee, nimmt sogar öfters wieder frischen Schnee, und ersetzt dann diesen durch recht kaltes Wasser. Endlich giebt man in einem ungeheizten Zimmer ein kaltes Bad, reibt Brust und Herzgrube recht mit frischem Wasser; dann erst kann man den Erfrorenen in ein kaltes Bett legen, mit kalten Decken einhüllen und ihm ein kaltes Wasserklystier geben.

Einige blasen mit einem Blasbalge frische Luft in ein Nasenloch, während sie das andere Nasenloch und den Mund gut zuhalten. Allein nach meiner Erfahrung kommt hierbei die Luft weit mehr in den Magen als in die Lungen. Will man eine künstliche Athmung einleiten, so ist es viel besser, abwechselnd des Kranken Arme fest an seine Brust hin zu drücken und dann wieder über seinen Rumpf hinauf zu heben, oder noch einfacher, mit unseren beiden Händen langsam (alle zwei bis drei Sekunden) Brust und Bauch des Erfrorenen zusammenzupressen.

Bemerkt man leise Lebenszeichen, etwa zuckende Bewegung der Augen oder Veränderung der Lippenfarbe oder einen leisen Athmungsversuch, so kitzelt man mit einer Feder die Nase, träufelt belebende Flüssigkeiten in Mund und Schlund: Wein, Kognak, Hirschhorngeist etc. Kommen deutlichere Lebenszeichen, so gießt man von den ebengenannten Belebungsmitteln ein paar Kaffeelöffel voll in den Mund und läßt auch ein Klystier mit einem Löffel Wein oder Kognak geben, während man die Haut mit Spirituosen reiben läßt und den Kranken in ein erwärmtes Bett bringt. Eine Tasse warme Suppe oder schwarzer Kaffee, auch ein gutes Glas Bier ist jetzt das Geeignetste. Sollte aber die Aufregung zu stark werden, so gebe man ein laues Bad und beruhigende Mittel, etwa ein Glas Mandelmilch oder eine kleine Dosis Morphium.

In den gewöhnlichen Verhältnissen unseres Lebens werden jedoch derartige Unglücksfälle nur selten zur Beobachtung kommen; desto zahlreicher sind aber die Klagen über erfrorene Finger und Zehen, Ohren und Nasen, über quälende Frostbeulen, auf die wir am Schluß dieses Artikels eingehen werden.

(Schluß folgt.)

Sankt Michael.

Roman von E. Merner.
(Fortsetzung.)

Auf der süddeutschen Eisenbahnstation E. herrschte jetzt ein unglaublich gesteigerter Verkehr; denn das an sich ziemlich unbedeutende Städtchen war Knotenpunkt dreier Bahnlinien und lag auf dem direkten Wege zum Rhein. Tag und Nacht rollten die Militärzüge, welche die Armee nach den Westgrenzen beförderten, und die Stadt selbst war überfüllt mit Truppen.

Einige hundert Schritt vom Bahnhofe entfernt lag ein Gasthaus niederen Ranges, das sonst nur von der Landbevölkerung besucht wurde und jedenfalls nicht für die Fremden paßte, die vor einer Stunde hier angelangt waren: eine junge, anscheinend sehr vornehme Dame, in Begleitung eines alten Geistlichen und eines Dieners. Das kleine niedrige Gemach, welches man ihnen eingeräumt hatte, war sehr dürftig und unsauber, und doch war es das einzige Unterkommen, das sie hatten finden können.

Die Dame, die, das Haupt in die Hand gestützt, am Tische saß, trug Trauerkleiduug und sah bleich und ernst aus, aber das vermochte nicht die Schönheit des Gesichtes zu beeinträchtigen, welches sich aus dem schwarzen Kreppschleier hob. Ihr gegenüber hatte der Geistliche Platz genommen, der soeben sagte:

„Ich fürchte, wir werden einstweilen hier bleiben müssen. Der Diener ist vergebens durch die ganze Stadt gelaufen, die Hôtels sind überfüllt und auch sämmtliche Privatzimmer besetzt. Für die Nacht mag das noch angehen; aber länger können Sie doch unmöglich in solchen Umgebungen verweilen, Gräfin Hertha.“

„Weßhalb nicht?“ fragte Hertha gelassen. „Wir werden auch morgen keine Wahl haben, und in einer Zeit wie der jetzigen muß man sich der Nothwendigkeit fügen.“

Der Begleiter, es war der Pfarrer von Sankt Michael, blickte mit einiger Verwunderung auf die verwöhnte junge Gräfin,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 894. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_894.jpg&oldid=- (Version vom 30.9.2022)