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Das Zerwürfniß in der Steinrück’schen Familie lastete schwer genug auf allen Mitgliedern derselben. Hortense war allerdings abgereist, denn der General bestand darauf, daß wenigstens ein Mitglied seines Hauses die Verwandte zu Grabe geleite. Er selbst konnte in der That nicht fort, und für Raoul’s Nichterscheinen konnte man die politischen Ereignisse wenigstens zum Vorwand nehmen; die Abwesenheit Hortense’s aber hätte das Zerwürfniß sofort der Welt offenbar gemacht, und diese fügte sich um so bereitwilliger dem Verlangen ihres Schwiegervaters, als sie ihre letzte Hoffnung noch auf ein persönliches Eingreifen setzte. In der stürmischen Scene, die vor der Abreise zwischen ihr und Raoul stattgefunden hatte, war der Name Michael’s nicht genannt worden; sie wußte nichts von seinen Beziehungen zu Hertha und zu ihrer Familie überhaupt. Heloise von Nérac galt ihr als der alleinige Grund des Bruches, und deßhalb hoffte sie noch immer, daß es ihr gelingen werde, die beleidigte Braut zu versöhnen und ihrem Sohm trotz alledem das zu sichern, was er in grenzenlosem Leichtsinne mit Hertha’s Hand aufgegeben hatte.

Der General und sein Enkel hatten sich seit gestern nur auf Minuten gesehen; aber schon diese Minuten waren peinlich genug. Augenblicklich befand sich der junge Graf im Hause seines Freundes Clermont, wohin er im vollen Trotze gegangen war, um der Mutter und dem Großvater zu beweisen, daß er kein Knabe mehr sei, der sich in solchen Dingen befehlen oder verbieten lasse. Er war allein mit Heloise und hatte ihr soeben mitgetheilt, was gestern geschehen war, aber in einer so leidenschaftlichen Art, daß man deutlich sah, wie tief es ihn erregte.

„Der Würfel ist gefallen!“ schloß er endlich. „Meine Verlobung mit Hertha ist gelöst. Ich bin frei, wie Du es bist, und zu verbergen giebt es jetzt nichts mehr. Jetzt sage es mir endlich in klaren, deutlichen Worten, Heloise, daß Du die Meine werden, daß Du meinen Namen tragen willst. Noch hast Du das nie gethan.“

Die junge Frau hatte schweigend zugehört, aber zwischen ihren Brauen lag eine Falte. Es schien fast, als ob ihr dieser Ausgang nicht erwünscht sei.

„Nicht so stürmisch, Raoul!“ wehrte sie ab. „Du hast es mir eben selbst bekannt, daß Dein Großvater diese Verbindung niemals zugiebt, und Du hängst gänzlich von ihm ab.“

„Für den Augenblick! Für die Zukunft bin ich der Majoratserbe, und das kann mir kein Testament rauben. Es ist Familiengesetz in unserem Hause. Du weißt es ja!“

Heloise wußte das allerdings sehr genau, aber sie wußte auch, wie gering, ihren Ansprüchen nach, die Einkünfte dieses Majorats waren. Die Sache war ja schon vor Monaten Gegenstand einer eingehenden Erörterung zwischen ihr und dem Bruder gewesen, und das Zukunftsbild, das Henri ihr damals so schonungslos ausmalte, das Leben auf einem einsamen Gute in der Provinz, hatte wenig Verlockendes für eine Frau, die nur athmen konnte in dem glänzenden Treiben der Gesellschaft und für die Glanz und Luxus Lebensbedürfnisse waren.

„So laß uns auf die Zukunft hoffen!“ sagte sie rasch ablenkend. „Die Gegenwart ist uns feindlich genug. Nicht allein der Streit in Deiner Familie, auch die politischen Ereignisse drohen, uns zu trennen.“

„Trennen?“ fuhr Raoul auf. „Weßhalb?“

„Nun, es versteht sich doch von selbst, daß wir nicht hier bleiben, wenn der Krieg wirklich ausbrechen sollte, den auch mein Bruder für unvermeidlich hält. Sobald unsere Gesandtschaft die Stadt verläßt, ist auch unseres Bleibens nicht länger. Henri hat mir bereits mitgetheilt, daß ich mich auf eine schnelle und unerwartete Abreise gefaßt halten muß.“

„So laß Henri gehen, aber Du bleibst! Dich lasse ich nicht fort! Ich weiß, daß ich ein Opfer von Dir fordere, aber bedenke, was ich Dir geopfert habe! Dich jetzt zu verlieren, ertrage ich nicht! Du mußt bleiben!“

„Wozu?“ fragte die junge Frau herb. „Vielleicht, um mit anzusehen, wie der General seinen Willen durchsetzt, wie Du in voller Uniform abmarschirst gegen Frankreich?“

Raoul ballte die Hand.

„Heloise, treibe nicht auch Du mich zur Verzweiflung! Wenn Du wüßtest, was ich Alles habe ertragen müssen, was ich noch ertragen muß! Mein Großvater – er hat seit gestern keine zehn Worte mit mir gesprochen. Aber er hat einen Blick, einen Ton, die mein Blut zum Sieden bringen. Es liegt die vollste Verachtung darin. Meine Mutter, von der ich nie etwas Anderes empfangen habe, als Liebe und Zärtlichkeit, überschüttet mich mit Vorwürfen. Henri will fort. Jetzt sprichst auch Du von Trennung, und ich soll allein bleiben, während es von allen Seiten auf mich einstürmt – das ertrage ich nicht.“

Er warf sich in der That wie ein Verzweifelter in einen Sessel. Heloise blickte mit einem Gemisch von Mitleid und Unwillen auf den jungen Mann, der mit all seiner Ritterlichkeit und Tollkühnheit, mit seiner Verachtung jeder äußeren Gefahr, doch wie ein Rohr im Winde schwankte, sobald es sich um den moralischen Muth handelte.

„Müssen wir uns denn trennen?“ fragte sie leise. „Das steht ja bei Dir, Raoul!“

Er blickte befremdet, fragend auf. „Bei mir?“

„Gewiß. Ich kann nicht bleiben, so wenig wie Henri. Wir wissen es ja aber, daß Du im Herzen unser bist, daß nur der Zwang Dich auf der deutschen Seite festhält. Nun wohl, entreiße Dich diesem Zwange – folge uns nach Frankreich!“

„Bist Du von Sinnen?“ rief Raoul aufspringend. „Jetzt, am Vorabend des Krieges? Das wäre ja Verrath!“

„Es wäre nur ein tapferer, muthiger Entschluß, ein kühnes Bekenntniß der Wahrheit. Wenn Du hier bleibst, belügst Du Dich selbst und alle Anderen. Was giebst Du denn auf? Ein Land, in dem Du fremd geblieben bist und ewig fremd sein wirst, Verhältnisse, die Dir unerträglich geworden sind, einen Großvater, mit dem Du Dich im offenen Kampfe befindest. Die Einzige, nach der Du fragst, Deine Mutter, mag Dir jetzt grollen über das Scheitern ihrer Pläne; bei diesem Schritt grollt sie Dir sicher nicht.“

„Ich heiße Steinrück!“ sagte Raoul finster. „Das hast Du wohl vergessen, Heloise?“

„Ja, so heißest Du, aber Du bist ein Montigny, vom Scheitel bis zur Sohle. Du hast Dich dessen oft vor uns gerühmt, wozu es denn jetzt verleugnen? Soll der Name des Vaters allein Dir Dein Denken und Fühlen vorschreiben? Hat das Blut der Mutter nicht das gleiche Recht? Zu ihrem Lande, zu ihrem Volke zieht es Dich mit ganzer Seele, und man will Dir als ein Verbrechen anrechnen, was doch nur die heiligste Macht der Natur ist; man will Dich zwingen, gegen uns zu kämpfen. Das ist Verrath, und dazu wirst Du Dich nicht brauchen lassen!“

Raoul hatte sich abgewandt, als wolle er die Worte nicht hören, und doch sog er sie begierig ein. Das waren ja seine eigenen Gedanken, die ihn Tag für Tag umschlichen, die er von sich wies und die doch immer wieder kamen. Das Einzige, was ihn hätte davor schützen können, ein Pflichtbewußtsein, besaß der junge Graf nun einmal nicht. Die Pflicht war ihm stets als ein Gespenst, als ein eiserner Zwang erschienen. So stand sie auch jetzt vor ihm, aber sie schreckte ihn wenigstens noch.

„Hör’ auf, Heloise!“ sagte er gepreßt. „Ich kann, ich darf das nicht hören, und,“ er richtete sich plötzlich mit einer energischen Bewegung empor, „ich will es auch nicht hören – laß mich fort!“

Er wandte sich in der That zum Gehen, aber jetzt trat die junge Frau zu ihm und legte ihre Hand auf seinen Arm. Ihre Stimme klang bittend, überredend und wieder traf ihn der weiche verschleierte Blick, den er nur zu gut kannte.

„Komm mit uns, Raoul! Du verzehrst Dich ja in diesem unseligen Kampfe mit Dir selbst. Du gehst zu Grunde daran, und ich – glaubst Du, daß ich die Trennung von Dir leicht ertrage? Daß ich weniger leide als Deine Mutter, wenn ich Dich in den Reihen unserer Feinde weiß? Folge uns nach Frankreich!“

„Heloise – laß mich!“ Der junge Graf machte einen verzweiflungsvollen, aber ohnmächtigen Versuch zu entrinnen; es war vergebens. Immer bestrickender klangen die Worte, denen er nicht entfliehen konnte; immer enger und dämonischer umwand ihn die schillernde Schlange.

„Er wird Dich zu zwingen wissen, der eiserne und unerbittliche Greis! Er hat Dich ja stets gezwungen. Entreiße Dich seiner Gewalt, ehe er seine Drohung wahr macht! Noch ist der Krieg nicht erklärt, noch darfst Du frei handeln. Verschaffe Dir einen Urlaub im Ministerium, gleichviel, auf welche Art und unter welchem Vorwande. Wenn Du fern bist, wenn Dich die Ordre nicht erreichen kann –“

„Nimmermehr!“ rief Raoul. Er fühlte, daß er im Begriff war, zu erliegen. Aber da bäumte sich noch der letzte Rest von Ehrgefühl in ihm empor. Das Bild seines Großvaters tauchte vor ihm auf, des „eisernen, unerbittlichen Greises“ mit der tödlichen Verachtung