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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Die Gräfin erschrak, aber sie war weit entfernt, den wahren Zusammenhang zu ahnen; ihre Befürchtungen nahmen eine ganz andere Richtung.

„Versagt man ihm etwa den Urlaub bei solcher Gelegenheit?“ fragte sie hastig. „Und auch Du, Papa, kannst nicht fort, wie Du sagtest? Es ist also wahr, was mir Leon schon gestern andeutete? Der Krieg ist unvermeidlich geworden?“

„Darüber kann ich Dir keine Gewißheit geben,“ erklärte Steinrück, nur die letzte Frage beantwortend. „Daß die Dinge ernst und kriegerisch aussehen, weiß ja alle Welt, und auch Raoul muß sich wie Jeder bereit halten, zu den Fahnen einberufen zu werden.“

„Einberufen?“’wiederholte die Gräfin erstaunt. „Er ist ja nie Soldat gewesen. Seine Zartheit und Kränklichkeit haben ihn stets von der militärischen Laufbahn ausgeschlossen, und auch das übliche Dienstjahr mußte ihm erlassen werden, weil sein Brustleiden noch nicht überwunden war.“

„So hieß es wenigstens! Die Aerzte haben damals eine sehr weitgehende Schonung geübt, mit der ich keineswegs einverstanden war, denn ich hielt Raoul schon damals für gesund; daß er es jetzt ist, wirst auch Du nicht mehr leugnen. Wer seinen Stolz darein setzt, der wildeste, tollkühnste Reiter zu sein; wer alle Strapazen der Hochlandsjagd erträgt, wenn es gilt, den Gemsen nachzustellen, und keine Ermüdung kennt in einem Treiben, von dem ich mehr weiß, als mir lieb ist, der wird auch wohl die Waffen im Kriege führen können.“

„Und Du könntest die Grausamkeit so weit treiben, von ihm zu fordern –“

„Was?“ fragte der General eisig. „Ah so, Du fürchtest, daß er vorläufig noch als Gemeiner eintreten muß? Das ist allerdings nicht zu ändern; aber er wird es nicht lange bleiben, und übrigens werde ich dafür sorgen, daß er in meiner unmittelbaren Nähe bleibt. Da gilt er der ganzen Umgebung für meinen Enkel und hat nur seine Soldatenpflicht zu erfüllen, wie jeder Andere.“

„Aber gegen die Meinen!“ rief Hortense leidenschaftlich. „Wenn es wirklich dazu käme – das überlebte ich nicht!“

„Man überlebt Vieles, Hortense, was noch schwerer zu tragen ist. Ich begreife, daß es Dir Thränen kosten wird, und muthe Dir nicht zu, hier in der Hauptstadt zu bleiben, wenn wirklich der Sturm gegen Frankreich losbricht. Du kannst eben unser Empfinden nicht theilen. Raoul aber ist der Sohn eines Deutschen und wird als solcher seine Schuldigkeit thun. Er war damals dienstunfähig; ich zweifle nicht, daß er jetzt vollkommen kriegstüchtig gefunden wird.“

Die Worte klangen sehr ruhig und sehr eisern. Aber Hortense lernte es nun einmal nicht, ihren Schwiegervater zu verstehen. Sie stürmte immer wieder von Neuem an gegen diesen Felsen, obgleich sie wußte, daß er nicht zu bewegen war.

„Es liegt aber in Deiner Macht, ihn davon zu befreien,“ sagte sie noch heftiger. „Es kostet Dich nur ein einziges Wort an die betreffenden Aerzte, daß Du das Leiden Deines Enkels noch nicht für überwunden hältst. Wenn der General Steinrück das erklärt, so wird es sicher Niemand wagen –“

„Ihn der Lüge zu zeihen? Gewiß nicht, aber man wagt es doch, ihm eine Lüge zuzumuthen, wie ich sehe. Ich will der Erregung, in der Du Dich befindest, Rechnung tragen, Hortense, sonst –“ er vollendete nicht, aber sein Blick ergänzte die Worte.

Raoul hatte bisher seitwärts gestanden, ohne sich an dem Gespräche zu betheiligen, und doch sah man, welchen leidenschaftlichen Antheil er daran nahm; jetzt aber trat er vor.

„Großvater, Du weißt, daß ich kein Feigling bin,“ sagte er gepreßt. „Du hast, mich oft tollkühn genannt und mich gezügelt, wo ich vorwärts wollte; aber Du wirst und mußt es begreifen, daß ich in diesen Kampf nicht gehen kann. – Die Hand erheben gegen das Volk und das Land meiner Mutter – mein ganzes Inneres empört sich dagegen.“

„Ich kann es Dir aber nicht ersparen,“ sagte Steinrück unbewegt. „In solchem Falle heißt es, Selbstüberwindung üben und unentwegt seine Pflicht thun. Wozu all die Worte! Es ist eine unbedingte Nothwendigkeit, der Ihr Euch Beide zu beugen habt – genug davon!“

„Ich will und kann mich aber hier nicht beugen!“ rief der junge Graf in steigender Erregung. „Ich habe niemals den Waffendienst geleistet, und auch jetzt wird man mich nicht rufen, wenn Du nicht darauf bestehst. Aber Du willst mich hineinzwingen in diesen Kampf gegen mein zweites Vaterland. Ich sehe es nur zu deutlich –“

Er brach ab, denn der General richtete sich so hoch und drohend empor, daß er mitten in der Rede verstummte.

„Ich dächte, Du hättest nur ein Vaterland! – Kommt Dir das nicht einmal jetzt zum Bewußtsein? Nun denn ja, Du sollst hinein in den Kampf, sollst ihn ausfechten von Anfang bis zu Ende, damit Du Dich wieder auf Dich selbst besinnst. Im Sturm des Krieges, in der Erhebung Deines ganzen Volkes lernst Du vielleicht begreifen, wo jetzt allein Dein Platz ist; vielleicht bringt Dir das die Werlorene Liebe zur Heimat zurück. Es ist noch meine einzige, meine letzte Hoffnung! Sobald die Entscheidung da ist, wirst Du Dich melden, freiwillig melden.“

Es war wieder einer jener energischen Befehle, denen sich Raoul sonst stets beugte; diesmal aber erhob er sich dagegen wit wild aufflammendem Trotz.

„Großvater, treibe mich nicht zum Aeußersten! Du hast es mir stets vorgeworfen, daß ich das Blut meiner Mutter in den Adern habe, und ich fürchte, daß Du Recht hast. Was ich jemals an Glück, an Freiheit genossen in meiner schönen sonnigen Jugendzeit, das liegt drüben in Frankreich, und nur dort erscheint mir das Leben wirklich lebenswerth. Hier in dem kalten nüchternen Deutschland bin ich nie heimisch geworden; hier wird mir jeder Tropfen der Freude karg zugemessen; hier wird mir immer und ewig das Gespenst der Pflicht entgegengehalten. Stelle mich nicht so eisern und unerbittlich vor die Wahl! Sie könnte anders ausfallen, als Du glaubst! Ich liebe Dein Deutschland nun einmal nicht, habe es nie geliebt und, komme was da will – ich kämpfe nicht gegen mein Frankreich!“

„Mein Raoul – ich wußte es ja!“ rief Hortense triumphirend, indem sie ihm die Arme entgegenstreckte.

Steinrück stand regungslos da und sah auf die Beiden. Das hatte er doch nicht erwartet! Die Furcht vor ihm hatte Raoul bisher immer noch in Schranken gehalten. Er wagte es nie, seinen innersten Empfindungen Worte zu leihen. Jetzt brach diese Schranke, und was sie entfesselte, das erschütterte selbst die eiserne Natur des alten Grafen. Seine Stimme hatte einen fremden Klang, als er endlich wieder sprach.

„Raoul – komm zu mir!“

Der junge Graf rührte sich nicht. Er blieb an der Seite seiner Mutter, die den Arm um ihn gelegt hatte, als wolle sie ihn zurückhalten. So standen sie da, Beide trotzig und feindselig. Aber der General war nicht der Mann, der in seinem Hause einen solchen Widerstand duldete.

„Hast Du meinen Befehl nicht gehört?“ fragte er. „So muß ich ihn wohl wiederholen. Du sollst zu mir kommen!“

Sein Blick und Ton übten wieder die alte Gewalt auf Raoul aus, der fast mechanisch, als weiche er einer unwiderstehlichen Macht, sich von der Mutter losmachte und dem Befehle Folge leistete.

„Du willst nicht kämpfen?“ sagte Steinrück, indem er die Hand des jungen Mannes mit so eisernem Druck umschloß, daß jener kaum einen Schmerzensschrei unterdrücken konnte, „das wird sich zeigen! Ich werde in Deinem Namen die Meldung erstatten, und bist Du erst einberufen, so wird man Dich lehren, was Disciplin heißt. Du weißt doch wohl, was dem Soldaten geschieht, der den Gehorsam verweigert, oder – dem Deserteur!“

„Großvater!“ schrie Raoul auf, der zusammengezuckt war bei dem schmachvollen Worte.

„Ich stelle Dich vor die Wahl, trotz Deiner Drohung! Und damit Du Deinen Sohn nicht zu sehr, bewunderst wegen seines Muthes, Hortense, so magst Du erfahren, was Dir doch kein Geheimniß bleiben kann: Raoul’s Verlobung mit Hertha ist gelöst, durch seine Schuld. Er hat bei Frau von Nérac Wort und Pflicht vergessen, die er seiner Braut schuldet.“

„Raoul!“ rief die Gräfin entsetzt. Es klang anders, als ihr Ruf vorhin. Der General ließ langsam die Hand seines Enkels los und trat zurück.

„Darüber magst Du mit ihm rechten! Das Zweite, Schlimmere, werde ich zu verhüten wissen. Ich will, doch sehen, ob der letzte Steinrück es wagt, seinem Namen solche Schmach anzuthun und seinem Vaterlande die Treue zu brechen, wie er sie seiner Braut gebrochen hat!“

Damit wandte er den Beiden den Rücken und verließ das Gemach.


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