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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Hertha weiß, daß es keine Phrase ist; Michael würde ihr folgen in jede Gefahr; er würde sie suchen und finden, wenn er ihr Schicksal ahnte, aber er glaubt sie ja längst geborgen in dem heimatlichen Schlosse. Und doch ist es ihr, als müsse das angstvolle, leidenschaftliche Sehnen, in das sich ihr ganzes Denken und Fühlen zusammendrängt, ihn herbeiziehen, als könne und müsse er den Aufschrei hören, der jetzt laut und verzweiflungsvoll von ihren Lippen bricht, halb ein Gebet zu Sankt Michael und halb ein Ruf nach dem Geliebten: „Michael – zu Hilfe!“

Da klingt ein anderer Ruf zu ihr empor, noch fern, halb verweht, aber es ist seine Stimme und die hört sie durch all das Sturmesbrausen, wie er die ihrige gehört hat. „Hertha!“ Und jetzt zum zweiten Male, wie mit einem stürmischen Aufjauchzen: „Hertha!“ Sie rafft sich empor und antwortet; immer näher kommt der rettende Klang, und jetzt muß der Retter sie entdeckt haben, denn dicht unter ihr tönt es:

„Da oben? – Muth! – Ich komme!“

Es vergehen noch einige endlose, qualvolle Minuten. Michael scheint langsam, mühsam emporzusteigen, aber jetzt taucht er auf, setzt den Bergstock ein und schwingt sich auf die Felsplatte; jetzt steht er neben Hertha und legt beide Arme um die Wankende, und sie schmiegt sich an seine Brust, als wollten sie sich nimmer wieder lassen.

Aber der Moment seligen Selbstvergessens ist nur ein kurzer; noch umringt sie die Gefahr, es darf keine Minute versäumt werden.

„Wir müssen hinunter!“ drängt Michael. „Die Tanne wankt und ist schon halb entwurzelt; sie kann jeden Augenblick stürzen; hier in den Klüften ist überhaupt keine Sicherheit. Komm, Hertha!“

Er hat sie nicht losgelassen, und sie lehnt sich an seine Schulter, mit vollem, hingebendem Vertrauen. Michael geht voran und sie führend, oft halb tragend, geleitet er sie niederwärts. Der Mond ist wieder hervorgetreten und leuchtet ihnen auf ihrem Wege; aber er zeigt ihnen auch die ganze Furchtbarkeit dieses Weges, den Hertha halb unbewußt gemacht hat und dessen Gefahren sich bei der Rückkehr verdoppeln. Aber Michael hat nicht umsonst zehn Jahre lang in diesen Bergen gelebt, und der Mann hat nicht vergessen, was der Knabe einst gelernt, dem kein Felsgipfel zu hoch und keine Kluft zu tief war – das zeigt er jetzt. So klimmen sie abwärts, ihnen zur Seite der Abgrund, rings um sie her die wilde, brausende Sturmnacht und in ihren Herzen ein grenzenloses, triumphirendes Glück, das keine Stürme und Abgründe mehr schrecken. So erreichen sie endlich den sicheren Boden. Michael hat Wort gehalten – er holte sich sein Glück von der Adlerwand! – –

Der Sturm hatte gegen Morgen nachgelassen; er tobte nicht mehr mit der alten Wuth, und auch der Himmel begann sich allmählich aufzuhellen: langsam sanken die Wolken in die Thäler nieder und um die Berge wob sich das erste matte Grau der Morgendämmerung.

Michael hatte am Ausgange der Felsenklüfte Halt gemacht. Die Bergkapelle lag noch fast eine Stunde entfernt, und er mußte seiner aufs Aeußerste erschöpften Begleiterin Ruhe gönnen. Die Gefahr war ja auch jetzt überwunden, der Rückweg bot keine Schwierigkeiten mehr, wenn man das Tageslicht abwartete. Er hatte Hertha im Schutze eines Felsens geborgen, wo der Sturm sie nicht erreichte, und ihr auf einem Stein einen Sitz bereitet, während er neben ihr stand. Der Anzug der jungen Gräfin trug noch die Spuren der nächtlichen Wanderung; ihr dunkler Regenmantel war zerfetzt und zerrissen, der Hut verloren, die schweren Flechten hatten sich gelöst und fielen über die Schultern, während das Haupt noch bleich und matt an der Felswand lehnte. Und doch glaubte Michael, sie nie so schön gesehen zu haben wie in diesem Augenblick, seine so schwer erkämpfte, seine im Sturme errungene Braut.

Sie hatten kaum gesprochen auf dem Wege hierher; jeder Schritt ging ja um das Leben; auch jetzt schwiegen sie noch und blickten empor zu der Adlerwand, wo das Dämmerungsgrau einem leichten röthlichen Schein zu weichen begann, der mit jeder Minute heller wurde. Endlich beugte sich Michael nieder und sagte leise, aber mit vollster Innigkeit:

„Hertha!“

Sie sah zu ihm empor und streckte ihm plötzlich beide Hände entgegen.

„Michael, wie konntest Du mich finden in jenen Klüften? Du hattest ja nicht einmal eine Spur meines Weges!“

Er lächelte und zog die Hände an seine Lippen.

„Nein, aber ich hatte eine Ahnung, wo meine Hertha war, wo sie sein mußte, und die leitete mich zu ihr! Du ahntest ja auch meine Nähe, Du riefst nach mir, noch ehe Du meine Stimme hörtest. Und jetzt lasse ich mich nicht mehr schrecken mit dem herben ‚Niemals!‘, das Du mir gestern zuriefest, mit dem Worte, das Du einem ungeliebten Manne gegeben hast. Ich habe Dich der Adlerwand abgekämpft; da werde ich auch wohl Sieger bleiben über Raoul Steinrück.“

„Ich kann auch sein Weib nicht werden!“ brach Hertha aus. „Jetzt weiß ich, daß ich es nun und nimmermehr werden kann! Aber laß den Streit nicht wieder beginnen, Michael, ich flehe Dich an. Wenn es möglich ist –“

„Es ist aber nicht möglich!“ unterbrach sie Michael ernst. „Täusche Dich nicht, Hertha; es gilt einen Kampf, wahrscheinlich einen Bruch mit Deiner ganzen Familie, die es Dir nie verzeiht, wenn Du ein Band zerreißest, das sie so sorgsam geknüpft hat, wenn Du einen Grafen Steinrück opferst, um einem bürgerlichen Officier anzugehören, der nichts besitzt als seinen Degen und seine Zukunft. Und es giebt noch etwas Anderes, mit dem man Dich und mich quälen wird; ich habe es Dir ja gestern in der Kirche enthüllt – den dunklen Punkt meines Lebens.“

„Das Andenken Deines Vaters!“ sagte sie leise.

„Ja. Man wird es Dir immer und immer wieder in das Gedächtniß rufen, daß Du dem Sohne eines Abenteurers folgst, dessen Name nicht rein ist. Ich dachte Dich gestern damit zu schrecken, und Du dachtest nur an mein Leiden dabei; aber wirst Du auch Stand halten, wenn der Schatten in Dein eigenes Leben hineingreift, wenn jener Name der Deinige ist?“

Sein Auge suchte das ihrige, mit einem letzten Aufflammen des alten Argwohns, welcher der einstigen Gräfin Steinrück galt mit ihrem hochmüthigen, übermüthigen Selbstbewußtsein. Aber jetzt war der trügerische Schimmer geschwunden aus den „schönen schlimmen Augen“, die es einst schon dem Knaben angethan hatten; sie leuchteten in der sonnigen Klarheit der Liebe und des Glückes.

„Muß ich es Dir denn wiederholen, was ich Dir schon gestern sagte, als Du von Deiner Mutter sprachest? Auch ich folge dem Manne meiner Liebe, der ganzen Welt zum Trotze, und wäre es selbst in Elend und Schmach, wäre es selbst in das Verderben!“

Er zog sie stürmisch in seine Arme, und sie schmiegte sich an ihn, wie vorhin auf jenem Felsen der Adlerwand, hinter der es jetzt dunkelroth aufglühte. Wie ein leuchtender Flammenbote stieg das Morgenroth empor. Schon begannen sich die Schneegipfel rosig zu färben, und jetzt erglühte auch das Sturmgewölk, das noch immer den Himmel umlagerte, in seltsamer feuriger Pracht.

„Der Tag bricht an!“ sagte Michael, während er wieder und immer wieder seine Lippen auf die Stirn der Geliebten preßte, auf das „rothe Märchengold“, das jetzt an seiner Brust ruhte. „Sobald Du Dich erholt hast, treten wir den Rückweg an; ich bringe Dich noch heute zu Deiner Mutter.“

„Meine Mutter!“ wiederholte Hertha schmerzlich. „O mein Gott, ich habe kaum an sie gedacht in diesen letzten Stunden; ich war ja vielleicht dem Tode näher als sie. Die Mutter würde meinen Bitten nachgeben, das weiß ich; aber sie kennt keinen anderen Willen als den meines Onkels Michael, dem sie sich blind unterwirft, und der Kampf mit ihm wird unendlich schwer werden.“

„Den überlaß mir!“ fiel Michael ein. „Ich werde dem General sofort nach meiner Rückkehr mittheilen, daß Du Dein Wort von Raoul zurückforderst, daß –“

„Nein, nein!“ wehrte sie angstvoll. „Den ersten Sturm muß ich aushalten. Du kennst meinen Vormund nicht.“

„Ich kenne ihn, besser als Du glaubst, und es ist nicht das erste Mal, daß wir Beide mit einander kämpfen. Wenn Einer diesem Kampfe gewachsen ist, so bin ich es – bin ich doch von seinem Blute!“

Hertha sah ihn verwundert, aber verständnißlos an.

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 814. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_814.jpg&oldid=- (Version vom 29.9.2022)