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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

wieder lächele. Das gelang bald. Sie küßte den Knaben, deckte ihn weich und sanft zu, wischte auch einen verspäteten Tropfen von der rosigen Wange. „Was will denn der dumme Tropfen?“ Ede lächelte und schlief rasch ein.

Gewiß, es konnte nur der Wind sein, der dieses Brausen und Tosen verursachte. Sie lauschte. Ja, ja, der Wind, der heulende Sturm. Freilich, wunderbar, daß der Sturm ohne Unterbrechung in derselben Stärke summte und brummte. Er verschlang sogar den Athem ihres Kindes. Ganz dicht auf die Kinderbrust mußte sie das Ohr legen, welches sonst jede leiseste Lebensäußerung des Lieblings selbst im Schlafe wahrnahm.

Das Kind schlief fest. Sie schauderte und legte die Hand an die brennende Stirn. Nun war sie ganz allein, kein denkendes, fühlendes Wesen außer ihr auf der Insel. Wie weit war’s denn wohl über das verglaste Meer und das Weiße todte Blachfeld bis zu den Wohnsitzen freundlicher hilfsbereiter Menschen? Und jenes schreckliche Gesicht im Nachtdunkel jenseit des Fensters, war es Wirklichkeit? war es Traum? Kein Traum, kein Traum! Dort stand es wieder. Nicht am Fenster, sondern in der weitgeöffneten Kammerthür! In der Gluth des Wahnsinns lachten zwei Augen sie an, zwei Mannesarme, von einer in Haß und toller Leidenschaft wogenden Brust getrieben, strebten ihr entgegen.

Und was that sie? Flüchtete sie wie das verfolgte Reh, sich in Sicherheit zu bringen?

Nein! Sie zeigte auf das Kind. „Bst, still, vorsichtig, Ede schläft. Du wirst mir doch das Kind nicht wecken wollen?“

Mit festem, sicherem Griffe faßte sie den Mann am Arme, drehte den großen Körper auf der Thürschwelle herum und führte ihn ganz gelassen durch die dunkle Stube über den Flur zur Hausthür. Willig, aber stöhnend wie ein verendendes Thier des Waldes, folgte ihr der Mann. Bei der Hausschwelle stieß sein tappender Fuß an, und er stürzte hinaus, der Länge nach in den Schnee. Drinnen aber schloß das junge Weib hastig die Thür; zum ersten Mal verriegelte und verrammelte sie den Zugang und stürzte selbst in fiebernder Erregung auf ihr Lager.

Mühsam, mit tappenden unsicheren Bewegungen hatte der Trunkene sich aufgerafft. Vor seinen Augen drehte sich die Nacht im Kreise, ein lächelndes, lockendes Mädchengesicht schwebte in der kreisenden Finsterniß. Seine Hände griffen nach dem Gespenst, um es zu erwürgen; sie griffen ins Leere und der Mann stürzte nieder, um sich aufs Neue zu erheben, den aussichtslosen Kampf zu erneuern. Immer wieder tauchte das süße Antlitz auf; in immer größerer Wuth jagte der Unglückliche einem Phantom nach, welches nur in seinem eigenen Hirn und Herzen hauste. „Ich werde dich doch los werden!“ schrie er, griff in den fest gefrorenen Schnee, und mit einem derben Eisklumpen zielte und schleuderte er nach dem Wahnbilde.

„Das sitzt!“ schrie er auf, und lautes, weithin gellendes Gelächter kündete den Triumph. Doch nur für wenige Augenblicke, denn an Stelle des verschwundenen Phantoms flammte es auf in jäher Lohe.

Der Wurf war durchs Fenster des eigenen Zimmers gedrungen, hatte die brennende Lampe getroffen und diese umgestürzt.

Oluf griff nach seinem schmerzenden Haupte, als sollte es ihm Klarheit geben über das, was dort vorging. Doch in dies Haupt konnte nimmer ein Verständniß des Augenblicks dringen. Nun war es plötzlich still geworden in Kopf und Brust. Er bohrte seine Augen in die Gluth, und wie diese weiter und weiter lief, nach der Decke, nach den Dachsparren griff, nun die Thür durchbrach und mit Zischen über hereinstürzende Schneemassen sprang, kam kindische Freude über den Mann. Er setzte sich gemächlich nieder und verfolgte die Sprünge des Feuers. Ein Giebel stürzte zusammen, der Sturm fand Zugang ins Innere und blies mit vollen gewaltigen Lungen hinein. Hochauf sprühten Millionen von Funken, und hinterdrein flammten tausend feurige Zungen zum Nachthimmel auf. Es brauste und sauste in dem Feuerherde, und über dem reinen Weiß der Natur lag blutrother Schein.

Nun grauste es den Mann doch. Alles physische Leben in ihm schien erstorben; Entsetzen drohte ihn zu ersticken. Nur seine Blicke lebten und verfolgten mit schauderndem Behagen die Fortschritte der Zerstörung.

Plötzlich kam Leben in den Unglücklichen. Ein schwacher Ruf, wie aus Weltenferne, drang trotz Gebrause und Getose an sein Ohr.

„Onkel Oluf! Onkel Oluf,“ rief die ferne Stimme. Er lauschte, und – „Weika, ich komme! Karle, Bruder! O, ich Elender! Herr mein Gott, laß mich nicht ganz zu Schanden werden!“ Seine Seele hatte sich wiedergefunden.

Verzweiflungsvoll rannte Oluf nach der Nordseite des brennenden Hauses, wo zwei Menschenleben dem Tode in brennendem Grabe verfallen waren. – –

*      *      *

Am andern Morgen lagen dichte feuchte Nebelschleier über dem Eiland. Bald nachdem Oluf die Rettungsthat vollbracht und während er sich mühte, die nöthigsten Dinge der Gluth abzuringen, um das Werk der Rettung zu vollenden, kam auf Geisterschwingen der Südwind geflogen, schob eine Nebelbank vor sich her, die alsbald zu Tropfen verdichtet das Werk der Erlösung an der erstarrten Natur begann, und fächelte das an geschützter Stelle in den Schnee gebettete kranke Weib mit mildem Hauche an. Auch die Natur kann Erbarmen haben.

Heute nur sollte, mußte das Eis noch halten! Ueber den glänzenden Spiegel der gefrorenen See wanderte ein Mann, mit einer lebenden Last auf den Armen, dem festen Boden menschlicher Hilfe und Theilnahme zu. Ein Kind trippelte nebenher, von Zeit zu Zeit an dem versengten Jackenzipfel des Mannes Stütze suchend, wenn die Füßchen gar zu oft ausglitten.

Heute noch mußte das Eis halten; heute nur, denn es galt, die todkranke Weika und das Kind in Sicherheit, unter Dach und Fach zu bringen.

Oluf, dessen Haupthaar verbrannt, dessen Gesicht rauchgeschwärzt und mit Brandblasen bedeckt war, fühlte nichts von eigenen Schmerzen. Sein Fühlen und Denken lebte einzig in seinem Schuldbewußtsein. Nicht in dem der letzten Nacht allein! Acht Jahre bittersten Vorwurfes voll drückten auf den starken Mann. Wenn die Kranke nur still gelegen hätte! Fest und behutsam trugen seine Arme, aber Weika suchte sich zu befreien, wirre ängstliche Reden dabei ausstoßend.

„Küsse mich nicht! nein, thu’s nicht, hast Du nicht an dem einen Kuß genug? Komm nur, komm nur! Nimm mich in Deinen Arm, da ist’s warm; horch, draußen geht der Tod um, und Karle kommt nimmer!“

Es schluchzte in Oluf’s Brust wie das versteckte Weinen eines Kindes, aber es trat kein Laut über die Lippen. Er sandte einen Blick zum Himmel, der hing in feuchtwarmen Wolken.

„Halten muß es!“ schrie es in des gequälten Mannes Seele, und er eilte schneller und schneller vorwärts, denn er fühlte es unter den Füßen wanken. Athemlos lief das Kind nebenher.

Sorgsam vermied der Lotse die langen dürren Stangen, die hier und da der glatten Eisfläche entragten. Bei offenem Wasser dienen sie den Fischern der Küste als Wegweiser zu den ausgelegten Netzen. Jetzt konnten sie das Verderben bringen, weil in ihrer Nähe das Eis dünner wird und dicht um die Stangen eine ganz kleine, offene Stelle bleibt. Vorwärts! Vorwärts! Nicht eine Sekunde darf die keuchende Brust sich Erholung gönnen! Nicht einen Augenblick darf Oluf ruhen, sein Gewicht würde den trügerischen Boden durchbrechen. Kling, kling, sangen die herabrieselnden Tropfen; kling, kling sang und klang es im Eise. Und nun sträubte die Kranke sich wieder gegen die schützenden, rettenden Arme. „Laß mich, was hab’ ich Böses gethan, daß Du mich würgst?“

Er fühlte sein Blut gewaltsam ins Hirn schießen; ihn schwindelte. Er mußte eine Ruhepause machen, wenn er nicht fürchten wollte, unter der Wucht der Anstrengung niederzustürzen. In großen Tropfen rann ihm der Schweiß über das Gesicht. Er stand und holte tief Athem; er lüftete das Tuch über Weika’s Haupt und küßte sie auf das Haar. Da ward die Kranke still. Jetzt aber krachte die wankende Glasdecke; unter seinen Füßen fühlte er das Wogen der tückischen Fluth. Vorwärts! Vorwärts! Will denn nimmer der Strand sich zeigen? Es wächst und wächst die Entfernung mit der Qual des Unglücklichen ins Ungeheure.

„Karle! Karle!“ stöhnt der Lotse. Da zupft es an seiner Jacke, und ein liebes Kinderstimmchen sagt ganz zuversichtlich: „Ja, lieber Oluf-Onkel, das ist wohl schwer, aber wart’ nur ein Weilchen, der Vater kommt bald!“ O seliges Kinderherz! „Der Vater kommt bald!“ ist dein sicherster Trost.

Der Vater kommt bald. Wie das kräftigte! Merkwürdig! Und die See, die vertrauteste, liebste Freundin des Lotsen, wird ihm doch nicht untreu werden zur Zeit der Noth? Vorwärts! Vorwärts!

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