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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Auch Oluf war wieder ins Haus gegangen und saß finster brütend in seinem Zimmer.

Draußen aber fielen immer dichter die Flocken. Das weiße Geflimmer legte sich über Stein und Sand, schmiegte sich zu Klumpen in die Ecken der Hausmauern und suchte unter dem First sogar Eingang in das Innere zu gewinnen. Einen Tag ging es so, noch einen Tag. Es gab keinen Ausguck auf das Meer, weil die Wolken noch immer Schnee ausschütteten. Dann kam von Nordosten der Sturm herangebraust, fegte das dichte weiße Tuch an jeder Erhöhung zum Wall auf und trieb die grausamsten Spiele. Bald lag das Lootsenhaus im Schneewall vergraben. Dann blies der Sturm mit eisigem Hauch so lange, bis der Wall zur Mauer und die weiße Decke über der Insel zu Eis erstarrte. Ja, selbst das Meer, das unzähmbare Meer, ward geduldig. Der schmale glänzende Streif an der Küste wuchs und wuchs, und eines Morgens suchten die bangen Augen eines einsamen Weibes vergebens nach einem Streifen köstlich blauen Wassers. Starr, fest, unwegsam ruhten Meer und Land. Nun blieben auch die Möven und Krähen weg, die bis dahin aus Ede’s mildthätigen kleinen Händen manches Bröckchen empfangen. Sie hatten sich weit aufs Festland zurückgezogen; nicht einmal wildes Gevögel mochte rasten auf der Stätte des Todes.

Als echte Seemannsfrau setzte sich Weika mit ihrem Geschick aus einander. Ob auch Morgen für Morgen trostlose Oede sie anstarrte, warm und freundlich loderte Weika’s Feuer. Sie schaffte im kleinen Hauswesen, saß beim Spinnrad und lehrte ihren Knaben, der mit süßem Geplauder über manche Stunde hinwegtäuschte. Endlich mußte Karle doch zurückkommen: nicht ewig konnte das Begrabensein dauern. Ihre Gedanken umfassten auch den bösen Mann. der in der anderen Hälfte des Hauses das Brechen des Eises abwartete. Wie gerne hätte sie ihn gebeten, die Behaglichkeit ihrer Behausung zu theilen: wie gern hätte sie gesprochen: Oluf sei mild, sei gut! Ich kann ja nichts dafür, daß ich deinen Bruder mehr liebte als dich, mehr als mich selbst, als das Himmelslicht, als meine Seligkeit. Oluf, sei gut! verzeih dem Weibe, was das Mädchen an dir verbrochen, jenen einen unseligen Kuß den die Glückliche, die Uebermüthige auf deinen Mund drückte. Oluf, sei gut, laß uns zusammenhalten in Freundschaft und Eintracht, und siehe, unsere Insel wird die Insel der Seligen sein, trotz Bann und Tod!

Weika seufzte zum Geschnurr der Spindel. Sie konnte, sie durfte so nicht sprechen, weil Karle jeden Annäherungsversuch verboten hatte, ihr und dem Kinde. Sie wagte nicht, so zu sprechen, weil ihr davor graute, jene rauhe, grimmige Sprache noch einmal zu hören, die sie nach ihrem ersten Liebesbeweis an dem Geburtstage erschreckt hatte. – –

Seit vier Tagen herrschte der Nordsturm bei klarem Himmel, er rüttelte an Fenstern und Giebeln und trieb Wirbeltänze mit klirrenden Eisnadeln, die er zu Pyramiden auffegte. Die in Fesseln liegende See stöhnte.

Zum ersten Mal legten sich um das Herz des jungen Weibes die Krallen der Furcht. Bei jedem Windstoß fuhr Weika zusammen. Sie vermied den Blick zum Fenster, weil ihre erregte Phantasie auf dem unter dem Fenster sich dehnenden Schneewall allerlei seltsame Lichter und dunkle Schreckgestalten vermuthete. Sie zog den Tisch, auf dem die Lampe friedlich leuchtete, dicht an den glühenden Ofen und kauerte in einem Sessel nieder. Ede kam mit seinem Bilderbuch, doch vermochte sein holdes Kindergeschwätz diesmal nicht, die trüben Geister zu bannen. Es lag auf ihr wie die Gewißheit eines kommenden Schrecknisses. „Karle! Karle!“ stöhnte sie. Der Knabe schaute auf und kletterte dann auf der Mutter Schoß. Er tröstete: „Der Vater kommt bald, warte nur, der Vater kommt bald.“ Unversehens legte das Kind bei seinen Liebkosungen das Händchen auf der Mutter Antlitz.

„O, wie heiß bist Du, Mutter!“

„Nein, Ede, mich friert.“ und schauernd drückte sie den Knaben fest an sich. Ihre Hände umschlossen krampfhaft den theuren kleinen Menschen, der ihr einziger Trost in dieser Noth war. Er lag ganz still an ihrer fieberhaft athmenden Brust.

Immer toller, immer wilder schien das nächtliche Sturmkoncert das einsame Haus zu umtoben. Bald tönte es wie Gebrüll, bald wie Gelächter. Jetzt kam es langsam herangekrochen mit eisigem Athem und glühenden Augen, sie und ihr Kind in ewige Nacht zu begraben. Da, da, o entsetzliches Gesicht! laß ab!

Mit kreischendem Laut ließ sie das Kind los und streckte abwehrend beide Arme nach dem Fenster aus. Dort kauerte es, eine dunkle zusammengeballte Gestalt; ein bärtiges Gesicht mit verzerrten Zügen drückte sich gegen die Scheiben. Weika floh mit ihrem Knaben in das Schlafgemach.

Was weiß ein Weib von Kampf und Noth, die in der Brust des Mannes wüthen? Das Weib liebt, und das ist ihm genug. In der Liebe ruht des Weibes Vollendung. Wie sollte ein der Liebe geweihtes Geschöpf die Abgründe einer Mannesseele ahnen?

Diese Abgründe sind aber da; trotz der Brücke des festen Gleichmuths und der kalten Kraft sind sie da. Sie reißen um so tiefer in die Seele, je mehr der Mann in Unthätigkeit seine Spannkraft und damit den angeborenen Widerspruchsgeist einbüßt. Der fürchterlichste Feind des Mannes ist der Müßiggang; in ihm geht das bessere Theil verloren und – der trübe Bodensatz bleibt zurück.

Es giebt auch einen unfreiwilligen Müßiggang. Diesem war Oluf Nieboom, der Lootse, verfallen. Das Eis stand. Die Schifffahrt war gehemmt. Außerdem lag die Lootseninsel tief unter Schnee, jede Arbeit im Freien wurde unmöglich. Und drinnen im Hause Arbeit sich schaffen? Für wen sollte Oluf arbeiten? Doch nicht für sich selbst? Du lieber Gott, es lohnte wahrlich nicht der Mühe, dies elende Stück Dasein zu verbessern! Für Andere? Es war ja Niemand sonst auf diesem todten Stück Erde.

Die Weika und der Ede?

Hahaha! leben die auch noch, sogar mit ihm, dem verschmähten Oluf, unter einem Dache? allein, ohne Karle's Schutz, Oluf’s Gnade anheimgegeben? Hahaha! wäre der Oluf nicht ein so tüchtiger kreuzbraver Kerl, du könntest was erleben, du vertrauensseliger Karle! Hattest du wirklich keine Ahnung, wie es unter Oluf's Jacke rumort, rumoren muß? Oluf ist ja dein Zwillingsbruder, und er liebt dasselbe Weib. welches dein eigen; ist aber von ihr verschmäht worden!

Er kämpfte mannhaft. Er erkannte auch wohl, was seine innere Qual, vermehrte und suchte dagegen anzukämpfen.

Karten, Zirkel und Lineal her, auch die Tagebücher und Aufzeichnungen der letzten Fahrten. Vor allen Dingen aber ein Glas steifen Grogs, die Lebensgeister flüssig zu machen. So, wie’s behaglich wallt und zischt, wie das schmeckt! Dem Manne ist wohl bis aufs innerste Mark – die Arbeit kann beginnen. Ist sie vollendet, wird sie dem Herrn Lootsenkommandeur eingereicht. Wird der sich wundern. daß Oluf Nieboom, der einfache Schiffer, der Lootse, die von der Regierung geplanten neuen Vermessungen der Ostsee ganz allein und privatim ausgeführt hat, ehe die Regierung nur mit den Vorbereitungen fertig war! Der Herr Regierungspräsident bekommt die Musterarbeit in die Hände; von ihm geht sie nach Berlin, natürlich mit einem Empfehlungschreiben. Geht dann nach Recht und Billigkeit, wird die beste Kommandeurstelle an den deutschen Küsten ihm, Oluf Nieboom, zu Theil werden. Vielleicht auch etwas Höheres. Gut! dann kommen die Brüder aus einander. Das Elend hat ein Ende. Elend? wer ist denn elend? Oluf Nieboom doch nicht? Hahaha, der fühlt sich so mollig wie noch niemals, der tauscht mit keinem König. Nur das lachende strahlende Mädchengesicht, welches zwischen seinen Zahlen und Berechnungen umherhüpft, möchte er fort haben. Es kommt aber immer wieder. Besonnen, bedächtig! Oluf, alter guter Junge, mach’ keinen Fehler in der Rechnung! Lieber noch ein heißes Glas trinken, dann wird's besser gehen.

Während der Mann Strich um Strich, Zahl um Zahl aufs Papier setzte, suchte er den Stachel in seiner Brust abzustumpfen: vergeblich! derselbe drang immer wieder durch. Zwischen Zahlen, Linien und mathematischen Formeln hüpfte das reizende Mädchengesicht umher, winkte und nickte vertraut.

Mehr als acht Jahre sind verflossen, seit Oluf’s mächtige Arme zum ersten und einzigen Male die süße Mädchengestalt umschlossen, die er bis zum Wahnwitz liebte. Diese Brust, dieser Mund, diese Hand, die in fernen und nahen Landen den lockendsten Versuchungen widerstanden, um den lebendigen Hort der Liebe unverkürzt einer Einzigen zu Füßen legen zu können - sie hatten diese Einzige gefunden. Beim Schifferball war es, in einer mäßig dämmerigen Ecke des überfüllten

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 791. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_791.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)