Seite:Die Gartenlaube (1886) 789.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

No. 45.   1886.
Die Gartenlaube.


Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig oder Halbheften à 30 Pfennig.


Die Insel der Seligen.
Von Helene Pichler.


Die Insel liegt im Norden, weit vorgeschoben: ein Wachtposten in den deutschen Meeren. Einst hing sie mit dem Festlande zusammen, aber in einer Sturmfluth riß das Meer dies Stückchen Land von der Muttererde los, fluthete darüber hinweg, als wolle es dasselbe verschlingen, begnügte sich aber schließlich, mit gewaltigen Armen es zu umfassen und mit der alten Melodie von Werden und Vergehen langsam, ganz langsam an der Vernichtung des Landfleckchens zu arbeiten.

Die von Norden heranwälzenden Nebel treffen zuerst das kleine Eiland, welches oft mehrere Tage unter ihnen begraben liegt, und sendet der Hochsommer seine Gluthen, so liegt es braun, dürr und schmachtend da. Wahrlich, nichts weniger als eine Glück und Glückseligkeit verheißende Insel. Seltsamer Weise gab es zwei Menschen, welche meinten, gerade die öde Insel sei der rechte Platz, um den Frieden und damit das Glück zurückzuerobern. Das waren der Lootse Karle Nieboom und sein junges Weib Weika, die mit ihrem siebenjährigen Knaben Ede das Lootsenhaus, das einzige Gebäude, welches auf dem sturmumtosten Eilande liegt, bezogen hatten. Freilich hatten Karle Nieboom und sein Weib gar seltsame Ansichten von Glückseligkeit. Sie meinten, aus Arbeit, Frieden und ein bischen Liebe ließe sich jenes goldene Fabelland aufbauen, von welchem so viele Menschen träumen, aber es nie erreichen. Ein kindlicher Glaube! Doch Karle Nieboom und Weika hatten ernsten guten Willen zu der Sache. Kaum aber kräuselte sich der erste Rauch über dem Dache des langgestreckten einsamen Hauses, so mußten die Beiden einsehen lernen, auch diese Sandscholle sei nicht der rechte Boden für den kostbaren Bau. Bald nach ihnen hielt der zweite Lootse seinen Einzug, Oluf Nieboom, den die Welt den Bruder nannte von Karle Nieboom: denn beide hatten an einer Mutterbrust zu gleicher Zeit gelegen: sie waren Zwillinge. Als Oluf sein Boot anlegte und sich anschickte, die Habseligkeiten seiner Junggesellenwirthschaft in die für ihn bestimmte Dienstwohnung zu schaffen, die mit der des Bruders unter einem Dache lag und einen Eingang mit dieser gemein hatte, da war Karle ihm entgegen gekommen, hatte ihm die Rechte geboten und gesagt: „Bruder, gute Fahrt allwegen! Dir und mir! Laß vergeben und vergessen sein, was hinten liegt. Eine Mutter hat uns getragen; einem Beruf gehören wir beide; ein Haus, ein Herd, ein –“

Er kam nicht zu Ende, denn obwohl Oluf’s Hand gezuckt hatte, als suche sie den Weg zur Hand des Bruders, sank sie doch schlaff herab und ballte sich. Unter der Thür des Hauses war die schlanke Gestalt Weika’s erschienen. Die eine Hand schützend über die Augen gelegt, winkte sie mit der anderen den Brüdern am Strande zu. Oluf, als er sie sah, biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten. Aber er faßte sich und erwiderte: „Wüßt’ nicht, daß etwas zu vergessen wär’. Daß der Kommandeur grad’ Karle


Fritz August von Kaulbach.
Nach dem Gemälde seines Vaters Friedrich Kaulbach.


Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 789. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_789.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2019)