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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Rang einnehmen; denn sie sind für die Existenz zweifellos die wichtigsten, die wahren Erwerbssinne im praktischen Leben.

Auge und Ohr sind bekanntlich in doppelter Zahl vorhanden, während Geschmack und Gefühl nur je eine einzige Nummer haben. Das letztere ist jedoch durch seine große Flächenausdehnung ausgezeichnet, umfaßt die ganze Haut und erscheint dadurch vervielfältigt. Das Geruchsorgan, obwohl zweigetheilt, ist durch räumliche Annäherung wiederum zu einem Organ geworden. Jene Verdoppelung bei Aug’ und Ohr ist aber eine Schutzvorrichtung von Seiten der Natur; denn geht die eine Hälfte je verloren, so ist durch die andere für einen guten, wenn auch nicht vollen Ersatz vorgesorgt.

Neben diesem Schutze, der in der zweifachen Anzahl liegt, ist für das Gehör noch ganz besonders durch seine tiefe Einbettung in das Schädelinnere und zwar in den festesten Knochen des Körpers, der deßhalb den Namen des Felsenbeins trägt, eine noch viel handgreiflichere Schutzvorrichtung geschaffen. Aber wie wenig unterstützt so oft der Mensch die schützende und erhaltende Absicht der Natur! Man kann dreist behaupten, daß kein Sinnesorgan im Allgemeinen so wenig gepflegt und vor Gefahren geschützt wird, wie gerade das Gehörorgan. Wir sehen dabei ganz ab von der ästhetischen Mißhandlung, zu welcher dasselbe durch die „Klavier-, Gesang- und Koncertseuche“ verdammt ist, sondern denken nur an die rein physischen Gesichtspunkte der Sache.

Es ist deßhalb wohl eine lohnende Aufgabe, vom Standpunkte der alltäglichen Praxis die Gefahren, welche dem Gehör drohen und deren mögliche Verhütung hier zu besprechen, nicht systematisch, sondern nur in den Hauptzügen.

Wie wunderbar vorsorglich die Natur in der ersten Lebenszeit das Gehör behandelt, zeigt die Thatsache, daß das Mittelohr des Kindes – der Raum hinter dem Trommelfell, welcher die zierlichen Gehörknöchelchen enthält – durch einen Schleimpfropf noch Tage lang nach der Geburt verstopft bleibt, so daß das Neugeborne anfangs nicht viel hören kann. Erst allmählich, während der Pfropf aufgesaugt wird, fängt das Kind an, zu hören. Aber wie wenig schonend verfahren im Gegensatz dazu die Eltern und Verwandten! Sobald wie möglich wollen sie wissen, ob das Kind auch gut hört: man ruft es an, damit es das Köpfchen der Stimme zuwende oder gar erschrecke, singt ihm mit lauter Stimme zu; alsbald belästigt man es auch mit Klingeln, Rasseln u. dergl. schönen Kinderinstrumenten, wenn man es nicht etwa gar noch für besser hält, ihm etwas mit den Händen vorzuklatschen, stark genug, daß selbst einem Erwachsenen davon die Ohren gellen. Diesem fast regelmäßigen Unfuge gegenüber ist es wahrhaft zu verwundern, daß das zarte Gehör nicht noch öfter Schaden nimmt, als es vielfach der Fall ist. Wie vor allem das Kinderohr durch solche starken Eindrücke gegen alle feineren Töne abgestumpft wird, geht daraus hervor, daß die meisten Kinder nur auf laute Gehöreindrücke reagiren. Also: man halte das ganze erste Jahr hindurch möglichst alle starken Schallerscheinungen fern, vor allem aber lasse man doch die Rasseln, Schnarren, Pfeifen, Trompeten etc. aus der Kinderstube fort! Es wird dann viel weniger schwer und träge empfindende Gehörnerven geben!

Und wer kann den Gegenbeweis liefern, daß nicht durch solche allzustarke und grelle Gehörseindrücke in frühester Jugend der Grund zu manchen Fällen von Abzehrung und Absterben der von Hause aus gesunden Gehörnerven gelegt wird, woraus dann unfehlbar Taubstummheit erwächst? Denn diese ist ja nicht immer, wie geglaubt wird, angeboren, sondern kann unter Anderem noch in ziemlich später Zeit, wenn das Kind schon zu sprechen angefangen hatte, in Folge einer Ueberreizung entstehen.

Ein weiteres Erforderniß der Gehörpflege bei kleinen Kindern ist die sorgfältigste Reinhaltung der Ohrmuschel, des Gehörgangs und der hinteren Ansatzrinne der Ohrmuschel an die Kopfhaut, da im frühesten Alter im Allgemeinen mehr Haut- und Ohrenschmalzabsonderung stattfindet, als bei Erwachsenen. „Diese Regel ist aber ganz selbstverständlich und wird doch gewiß grade bei Wiegenkindern überall befolgt!“ wird man sagen. Selbstverständlich ist sie freilich, aber es wird ihr recht häufig nicht nachgekommen, so lautet die Antwort der täglichen Praxis. Merkwürdigerweise herrscht sogar vielfach und nicht allein bei dem sogenannten „gemeinen Mann“, sondern noch mehr fast in „höheren Schichten“ das wunderliche Vorurtheil, man dürfe am Kopfe, also auch an den Ohren, keine Seife beim Waschen verwenden, weil dadurch „die Haut angegriffen werde“. Daran ist kein wahres Wort! Man muß sowohl die Muschel wie die Ansatzrinne gründlich mit lauem Seifenwasser täglich reinigen, weiter aber auch den Gehörgang, was fast gar nicht geschieht, mit lauwarmem Wasser öfters ausspritzen und den Eingang zuweilen mit kegelförmig zusammengefalteten zarten Leinwandläppchen auswaschen, nicht reibend, sondern sanft drehend, wodurch jede Abschürfung vermieden wird. Daran denken Amme und Mutter in der Regel so wenig, daß sie, wenn man die Vorschrift giebt, Einen recht verwundert ansehen. Von der Vernachlässigung solcher einfachen Reinlichkeitsmaßregeln rührt aber eine gute Anzahl der nässenden Ohren und Gehörgänge her; denn jeder an der Haut haftende Schmutz, und seien es auch nur kleienartige Schuppen, reizt die Haut oder entzündet sie allmählich. Dadurch wird nach und nach die Muschel verdickt, verliert einen Theil ihrer Elasticität; der Gehörgang schwillt und wird dadurch enger, ja es entstehen selbst Geschwürchen und daraus schließlich Narben. All das aber stört den akustisch so vollkommenen Bau der Schallzuleitungstheile und schwächt das Gehör. „Da müßten aber viele Kinder schlecht hören, wenn jedes Ohrennässen so schädliche Folgen hätte!“ Leider ist das Letztere ja auch der Fall; denn genaue Untersuchung der Hörfähigkeit vieler Schulkinder hat neuerdings die erstaunliche Thatsache ergeben, daß ein Drittel derselben schlecht hört! Anfügen wollen wir deßhalb sogleich, daß die obigen Reinlichkeitsvorschriften auch noch bei mehr erwachsenen Kindern beobachtet werden müßten, am meisten bei solchen mit skrophulöser Anlage, weil erfahrungsgemäß ganz besonders durch diese die Entstehung von Ohrausschlägen und Ohrenflüssen begünstigt wird, die immer leichter zu verhüten als zu heilen sind und oft genug allen ärztlichen Mitteln selbst Monate und Jahre lang widerstehen.

Aber selbst im späteren Lebensalter wird noch gegen die Reinhaltung des Ohres, besonders des Gehörgangs gefehlt. Wäre das nicht der Fall, so fänden sich nicht so viele Schwerhörige, bei denen eine genauere Untersuchung ergiebt, daß ihr Gehörübel auf theilweisem oder auf gänzlichem Verschluß der Ohröffnung durch angesammeltes und zuletzt zu einer festen schwarzen Masse verhärtetes Ohrenschmalz beruht, welches man nur selten noch durch einfaches Ausspritzen nach vorausgegangener Aufweichung mittelst Oel entfernen kann, sondern mit feinen Instrumenten beseitigen muß. In vielen Fällen kehrt das Gehör dann wieder – in manchen sogar so gut, daß die von dem oft jahrelang vorhanden gewesenen Pfropfe Befreiten sich anfangs durch Zuhalten der Ohren gegen die ungewohnten Tagesgeräusche schützen, was manchmal komisch genug aussieht! In andern Fällen aber wird nicht viel oder auch gar nichts mehr gewonnen, weil der so lange nicht mehr thätige Gehörnerv funktionsunfähig geworden ist. Nach des Verfassers Beobachtungen geschieht das Letztere besonders, wenn jahrelange Verstopfung des Gehörgaugs im höheren Alter statthatte. Auch bei Erwachsenen ist demnach zeitweises Ausspritzen der Ohren nothwendig; ganz verwerflich aber ist das Bohren im Gehörgange mit Haarnadeln, Stricknadeln u. dergl. Dingen, mit denen leicht Unheil angestiftet werden kann. Man lasse lieber seinen Hausarzt kommen, damit er nachsehe und helfe, wenn nöthig; ärztliche Hilfe ist ja in Deutschland so leicht zu erreichen und so – billig, ein ordentliches Gehör aber so wichtig, daß man mit gutem Gewissen zu einem solchen „Luxus“ rathen darf. Gelegentlich wollen wir hier noch hinzufügen, daß man sogar Herabsetzung des Sehvermögens bei Gegenwart von Ohrpfröpfen beobachtet hat, nach deren Entfernung sich die erstere wieder verlor.

Wirken die Ohrpfröpfe auch manchmal wie Fremdkörper, so sind sie doch keine solchen im gewöhnlichen Wortsinne; aber auch wirkliche Fremdkörper findet man bei Kindern häufig als Ursache von Ohrflüssen, und zwar von sehr hartnäckigen, so daß es geboten ist, jedesmal bei diesen das Augenmerk darauf zu richten, ob nicht durch Zufall oder ein bei Kindern gar nicht seltenes künstliches Einbringen etwas ins Ohr gelangt ist; denn oft sagen die Kinder davon nichts aus Furcht vor Strafe oder aus Vergeßlichkeit. Erfahren die Eltern aber die Sache sofort oder später, so ist dringend zu rathen, daß sie selbst alle Versuche unterlassen, den Fremdkörper – meist Bohnen, Erbsen, Johannisbrotkerne, Perlen, Kirschkerne u. dergl., auch kleine Kiesel, Glas- und Steinstückchen – zu entfernen; denn durch ungeschicktes Bohren werden diese Dinge nur tiefer in das Ohr geschoben. Leicht ist die Entfernung von Fremdkörpern, auch die von tief eingedrungenen

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 782. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_782.jpg&oldid=- (Version vom 11.1.2023)