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weihevollen Ruhe, mit der es seinem Feste entgegenharrte, noch unberührt von all den Wünschen, Bitten und Klagen, die morgen aus seinem Schoße emporsteigen sollten. Kein fremder Laut störte diese Ruhe; selbst das Brausen des Sturmes draußen, der sich in einzelnen langgezogenen Tönen vernehmen ließ, klang wie ferner Orgelton.

Ueber dem Hochaltare thronte Sankt Michael, nicht mehr das alte, dunkle und von der Zeit halb zerstörte Heiligenbild in seiner kindlich naiven Auffassung, das man pietätvoll im Vorraume der Kirche untergebracht hatte, sondern das Werk des jungen Künstlers, der damit so glänzend seine Begabung bewies und sich einen Namen in der Kunstwelt schuf. Michael kannte es von seiner ersten Entstehung an; er hatte es so oft gesehen; aber ihm, wie dem Maler selbst und dem Publikum, war es nur ein Gemälde gewesen: die meisterhafte Darstellung einer stürmischen Kampfscene, die zufällig einen kirchlichen Gegenstand betraf. Er war aufs Höchste überrascht von dem Eindruck, den das Bild in dieser Umgebung machte. Im Halbdunkel der Altarnische, zwischen den gothischen Fenstern, deren Malereien in glühender Farbenpracht leuchteten, gewann es eine ganz andere Gestalt; hier erschien es gleichsam losgelöst von allem Weltlichen, die Verkörperung der uralten, heiligen Legende, die sich in jeder Religion und bei jedem Volke wiederholt – des Sieges, den das Licht über die Finsterniß davonträgt.

Langsam schritt Rodenberg nach dem Hochaltare. Da gewahrte er in einem der vorderen Betstühle eine Frauengestalt, die der Pfeiler vorhin seinem Blick entzogen hatte. Aber das war keine bäuerliche Erscheinung: ein dunkles Seidenkleid floß auf den Boden nieder, und unter dem schwarzen Spitzenschleier, der über das Haupt geworfen war, leuchtete es mit einem seltsamen rothgoldenen Schimmer, den Michael nur zu gut kannte. Er blieb wie angewurzelt stehen. War es ein Spiel seiner Phantasie, die ihm überall nur dies eine Bild erscheinen ließ? Da wandte die Dame, durch das Nahen seiner Schritte aufmerksam gemacht, den Kopf, und ein Ausruf der Ueberraschung oder vielmehr des Schreckens entrang sich ihren Lippen; es waren Hertha’s Augen, die ihn anblickten!

Es mußte wohl ein Verhängniß sein, das die Beiden zum zweiten Male in dem einsamen, öden Alpendorfe zusammen führte, zu einer Stunde, wo sie sich durch weite Fernen getrennt glaubten; wenigstens empfanden sie so die ungeahnte Begegnung, bei welcher Beide ihre Fassung völlig verloren, so daß Keiner die Verwirrung des Anderen bemerkte; es dauerte Minuten, ehe sie ihre Selbstbeherrschung wieder fanden.

„Ich scheine Sie erschreckt zu haben,“ sagte Michael endlich. „Ich glaubte bei meinem Eintritt, die Kirche sei leer, und gewahrte Sie erst in diesem Augenblick.“

Hertha erhob sich langsam von den Knieen und mochte wohl fühlen, daß ihr Ausruf, ihre sichtbare Bestürzung eine Erklärung forderten. Sie war in die Betrachtung des Altarbildes vertieft gewesen; sie wußte nicht mehr, wie lange ihr Blick auf Sankt Michael geweilt, an wen sie dabei gedacht hatte, oder wollte es nicht wissen, und urplötzlich stand der, dessen Züge er trug, vor ihr, wie aus der Erde emporgestiegen. Ihre Stimme bebte noch, als sie entgegnete: „Ich war in der That – überrascht. Der Herr Pfarrer hat mir nicht mitgetheilt, daß Sie gleichfalls sein Gast sind.“

„Ich bin erst vor einer halben Stunde eingetroffen und kam gänzlich unerwartet und unangemeldet. Auch ich erfuhr noch nichts von Ihrem Hiersein. Ich hörte nur, daß Sie und die Frau Gräfin in Schloß Steinrück seien.“

„Wir wollten ursprünglich Beide nach Sankt Michael kommen,“ sagte Hertha, die jetzt völlig ihre Fassung wiedergewonnen hatte. „Aber meine Mutter ist erkrankt, nicht ernstlich, wie es scheint; dennoch bin ich mit einiger Besorgniß gegangen. Es war ihr ausdrücklicher Wunsch, daß wenigstens ein Glied unserer Familie dem Feste und der Uebergabe ihres Geschenkes beiwohnen möge, und ich mußte mich fügen.“

Michael sprach einige Worte des Bedauerns und der Theilnahme, bloße Phrasen, die wie mechanisch von seinen Lippen kamen und kaum gehört wurden. Er sah Hertha dabei nicht an, so wenig wie sie ihn, Ihre Blicke vermieden es instinktmäßig, sich zu begegnen; sie weilten auf dem Altargemälde, das eben voll von der Abendsonne beleuchtet wurde. Sie fluthete durch die Seitenfenster in das Schiff der Kirche herein und warf einen breiten goldigen Streif auf den Hochaltar.

Das Bild hatte nichts von dem alten traditionellen Beiwerk seines Vorgängers; keine Glorie von Engelköpfen blickte von oben herab, keine Flammen züngelten aus dem Abgrunde empor; nur die beiden lebensgroßen Gestalten hoben sich aus dem Rahmen, jede mächtig und wirkungsvoll in ihrer Art. Ueber ihnen nur die klare leuchtende Himmelstiefe, wie durchfluthet von goldigem Sonnenlicht, unter ihnen ein düsterer Felsenschlund, aus dem es herausgähnte wie ewige Nacht und ewige Finsterniß.

Aus der Höhe herab gestürzt, in seinem Falle schon den Rand der Kluft berührend, bäumte sich der Satan noch einmal empor, mit dem letzten ohnmächtigen Zucken des Besiegten. Aber es war nicht das gehörnte, schlangenartige Ungethüm der Sage, sondern eine menschenähnliche Gestalt, von unheimlicher, dämonischer Schönheit, mit dunklen Fittigen wie die eines Nachtvogels. Wohl sprachen aus dem Antlitz die Qual, die Wuth und zugleich das Grauen vor der Macht, die ihn niedergeworfen; aber in dem Auge, das nach oben gewandt war, lag etwas wie hoffnungslose Verzweiflung, wie ein Sehnen nach dem Lichte, das auch ihn einst umstrahlt und das ihm nun verloren war da unten in der ewigen Nacht. Es war Lucifer, der gefallene Engel, den noch in seinem Sturze ein Abglanz dessen umleuchtete, was er einst gewesen.

Ueber ihm, in jener klaren Himmelstiefe schwebte Sankt Michael, in strahlender Erzrüstung, getragen von zwei mächtigen Flügeln, die ihn wie Adlerschwingen umrauschten, und wie ein Adler stieß er auch aus der Höhe nieder auf den Feind. Die Rechte zückte das leuchtende Flammenschwert mit dem Kreuzesgriff, und Flammenblitze zuckten auch aus den großen blauen Augen, während die Locken, wie gelöst von dem stürmischen Fluge, um die Stirn wehten. Der Blick, das Antlitz, die Haltung: Alles zeugte noch vom Sturm des Kampfes, Alles sprühte Vernichtung, und doch war die ganze Gestalt des Erzengels wie getaucht in einen Glorienschein, der den machtvollen, siegreichen Kämpfer des Lichtes umstrahlte.

„Das Bild wirkt ganz anders in dieser Umgebung,“ sagte Hertha, den Blick noch immer darauf gerichtet. „Viel ernster, aber auch viel mächtiger! Dieser Erzengel hat etwas Furchtbares; man glaubt den Flammenathem der Vernichtung zu spüren, der von ihm ausgeht. Ich fürchte nur, das Gebirgsvolk wird diese Auffassung nicht begreifen; es sehnt sich vielleicht nach der feierlichen Gleichgültigkeit des alten Heiligenbildes zurück.“

„Da kennen Sie unsere Aelpler nicht,“ widersprach Rodenberg. „Grade dies Bild verstehen sie, wie kein anderes, denn das ist ihr Sankt Michael, der im Gewittersturm über ihre Berge und Thäler dahinbraust, dessen Blitze zucken und vernichten. Es ist nicht der Erzengel der kirchlichen Legende, aber der des Volksglaubens, in seiner ursprünglichen Gestalt. Sie nannten es einmal ketzerisch, als ich darin den altheidnischen Lichtkultus und den altgermanischen Donnergott wiederfinden wollte. Sie sehen, daß auch mein Freund sich meiner Auffassung anschließt; er hat seinem Michael etwas vom Wotan gegeben.“

„Und Professor Wehlau hat Ihnen Beiden diese Auffassung eingeimpft,“ fiel Hertha vorwurfsvoll ein. „Er kann es nun einmal nicht ertragen, daß sein Sohn ein wirkliches Heiligenbild gemalt haben soll; es muß um jeden Preis etwas Heidnisches und Germanisches hineingebracht werden. Als ob das Volk in Sankt Michael nur den Rächer sähe! Morgen, am Feste seiner Erscheinung, da steigt er ihm nur als Segenspender von der Adlerwand herab, da furcht sein Flammenschwert nur den Boden, und die Lichtfunken, die ihm entströmen, geben der Erde die Frühlingskraft und das Frühlingsleben. Ich habe erst heute wieder die schöne Legende gehört.“

„Nun, diesmal scheint er im Sturme niederzusteigen,“ sagte Michael. „Es braust schon jetzt um alle Höhen, und aller Wahrscheinlichkeit nach schickt uns die Adlerwand in der Nacht einen jener Frühlingsstürme herab, die in der ganzen Umgegend gefürchtet sind. Ich kenne die Anzeichen.“

Wie zur Bestätigung seiner Worte erhob sich draußen der Wind lauter und heftiger. Es klang nicht mehr wie Orgelton, sondern wie fernes dumpfes Meeresbrausen, das bald anschwoll, bald wieder erstarb. Dazu sank die Sonne, nur von einem leichten, schleierartigen Gewölk umgeben, in flammender Gluth,

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