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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Chiodo ruhig zum Fenster heraus und wollte durch den Rauch des brennenden Hauses und den Kugelregen hindurch sich an der zerbröckelten Mauer hinauf in ein höheres Stockwerk schwingen, weil vermuthlich die Treppe in Flammen stand – da traf ihn eine Kugel mitten durch die Stirn, daß er todt herabstürzte.

Als der letzte Brigant gefallen war, ließ der Kapitän die Leiche Chiodo’s in Gegenwart des Syndikus und anderer Zeugen durchsuchen und fand in seiner Tasche ein Papier des Inhalts:

„Ich bescheinige hiermit, von dem Kapitän Chiodo 60000 Franken in Depot erhalten zu haben. Luigi Cimino.“     

„Ah, Du Hund!“ rief der Kapitän. „Daher also die fetten Kapaunen, daher das Wildbrett und das reizende Lächeln Deiner schönen Kinder! Du wolltest mir die Hände binden, wenn nicht gar mich zum Mitschuldigen machen!“

Und augenblicklich ließ er den Arzt festnehmen und ihn gefesselt mit Handschellen nach Tiriolo transportiren. Dort angekommen, wurde er in festen Gewahrsam gebracht. Der Kapitän rief die Behörden zusammen, berichtete den Fang und die Tödtung Chiodo’s und legte ihnen das kompromittirende Papier vor. Da sah er mit Verwunderung, wie der Richter sich im Gesicht entfärbte, unruhig auf dem Stuhl hin- und herzurücken begann und ihn fortwährend zu unterbrechen suchte – er möchte doch die Sache vor der Hand auf sich beruhen lassen – das werde sich später Alles aufklären – das Papier könne unmöglich von Cimino herrühren u. s. w. Als aber der Kapitän sich nicht zum Schweigen bringen ließ, erhob sich der Richter plötzlich und bat um Entschuldigung, wenn er sich einen Augenblick entferne. Er verschwand und wurde nicht mehr gesehen. Zugleich mit seiner Flucht stellte sich auch heraus, daß Cimino aus seiner Haft entkommen und unauffindbar geworden war. Der Kapitän verließ bald darauf den Ort und vernahm nie wieder etwas von den beiden Persönlichkeiten; über den Beweggrund aber, der den Richter so eilig von dannen getrieben hatte, konnte Niemand im Zweifel sein.

„So ging es zu in jenen Tagen,“ schloß der Kapitän seine Erzählung. „Hätte man mit allen Helfershelfern der Briganten aufgeräumt, so wären die südlichen Provinzen heute entvölkert. Die armen Leute waren aber auch von zwei Seiten in Gefahr, denn der Neutrale war dazumal schlimmer dran als in Dante’s Hölle. Ich kannte einen Unglücklichen, dem eines Nachts die Briganten ins Haus einbrachen, um sich bei ihm auszuruhen und sich in seiner Küche gütlich zu thun. Wenn ihm sein Leben lieb war, mußte er sie gewähren lassen. Am Morgen zogen sie weiter, und gleich darauf rückte das Militär ein, das schon Wind erhalten hatte. ‚Ihr habt heute Nacht die Briganten beherbergt? Ihr seid ein Mitschuldiger.‘ Vergebens betheuerte der arme Mann, daß er ja nur der Uebermacht erlegen sei. Das Gesetz war unbeugsam: jedes Haus, das den Briganten Unterschlupf gewährt hatte, wurde verbrannt und sein Besitzer deportirt. Der Soldat darf in solchen Fällen nur das blinde Werkzeug einer summarischen Justiz sein, und wenn es ihm das Herz bräche.

Aber auch Züge von Heroismus hat der Brigantaggio zu Tage gefördert, welche beweisen, daß der alte Heldenmuth unserer Nation nicht erloschen ist.

Da kam einmal der Brigant Certéllo, eines der größten Ungeheuer, die Gott erschaffen hat, gegen Abend in eine ärmliche Hütte, wo er nur einen alten Mann mit seiner jungen Enkelin und einem siebenjährigen Knaben allein zu Hause fand.

‚Deine Enkelin gefällt mir, ich komme, um sie mit mir zu nehmen,‘ sagte er dem Alten, ‚rede dem Mädchen zu, daß sie gutwillig mitgeht.‘

Das arme, erschrockene Geschöpf klammerte sich an den Großvater an, der den Briganten mit aufgehobenen Händen beschwor, ihm das Kind zu lassen, sie sei ja noch so jung; er wolle lieber einwilligen, ihm eine seiner älteren Enkelinnen zu geben.

Aber der Brigant verlor die Geduld und mit brutalem Lachen, halb aus Zorn, halb aus Uebermuth – denn er war angetrunken – legte er an und schoß den alten Mann durch den Kopf. Und ohne weiter auf die beiden Waisen zu achten, die sich schreiend auf die Leiche des Großvaters warfen, stellte er seine Flinte in die Ecke und ließ sich gähnend auf die Herdbank nieder, um seinen Rausch auszuschlafen. Da erwachte in dem kleinen Jungen etwas vom Geiste David’s, als er den Philister schlug. Er sah das Scheusal, das seinen Großvater ermordet hatte, auf der Bank schnarchen, er sah auf dem Herd daneben die Axt, mit der der Alte sonst sein Holz zu spalten pflegte, und ohne sich zu besinnen, griff er zu dem Beil und schlug es dem schlafenden Briganten mit all seiner siebenjährigen Kraft auf die Stirn, daß der Brigant brüllend auftaumelte, durch die Wunde und das vorquellende Blut geblendet mit beiden Händen sich die Stirn hielt und unter fürchterlichem Schreien und Fluchen den Knaben zu Tode zu foltern drohte, sobald er nur wieder sehen könne.

‚Du sollst mich aber nicht mehr sehen,‘ rief das Kind, holte aufs Neue aus und hieb so lange mit der scharfgeschliffenen Axt auf den Briganten ein, bis er ihm das Hirn zu Brei zermalmt hatte. So fanden wir den Knaben in der Hütte und brachten ihn selbst nach Neapel, um ihn dem König vorzustellen. Viktor Emanuel ließ ihn auf Staatskosten erziehen und setzte ihm aus seiner eigenen Tasche einen Dukaten pro Tag auf Lebenszeit aus.

Noch eine Scene aus der Brigantenjagd werde ich Ihnen erzählen, eine Scene, die auf ewig in meine Seele gegraben steht, weil ich damals durch die tiefste Verderbniß hindurch den Funken eines heiligen Feuers erkannte.

Der schreckliche Caruso, einer der gefährlichsten Brigantenführer und zugleich weit und breit der schönste Mann, hatte ein wunderbar schönes Mädchen und guter Leute Kind entführt und zu Pferde mit Gewalt davongeschleppt. So wenigstens sagte man im Ort, vielleicht um die Anverwandten zu schonen, denn ich für meinen Theil“ – es ist der Kapitän, welcher spricht - „bin fest überzeugt, daß man noch niemals von den Sabinerinnen bis auf unsere Tage ein Weib mit Gewalt entführt hat. Doch das sind Glaubenssachen; gewiß ist, daß die Schöne bald Caruso’s Geliebte und eine der entsetzlichsten Megären wurde, die je durch Gewöhnung an Blut und Frevel den Adel ihres Geschlechtes verloren. Sie verübten gemeinsam Gräuel, die zu erzählen mir der Muth gebricht.

Wir machten lange vergeblich auf sie Jagd; endlich fingen wir Caruso in Gesellschaft des schrecklichen Weibes – ihr Name ist mir entfallen, aber ich kann Ihnen noch ihre Photographie zeigen, die unter unser ganzes Bataillon vertheilt war. Das Standgericht verurtheilte Beide zum Tode, und Caruso wurde zuerst erschossen. Das Bild steht mir noch vor Augen, als wäre es gestern gewesen. Noch sehe ich ihn auf dem Rasen liegen, die herkulische Gestalt mit dem herrlichen Römerkopf, den weder sein entmenschtes Leben zu entadeln, noch der Tod zu entstellen vermochte. Da, als sie die Gewehrläufe der Bersaglieri auch auf sich gerichtet sah, brach dem entsetzlichen Weibe, das sich nicht gescheut hatte, aus dem Schädel eines gemordeten Soldaten schäumendes Blut mit Wein vermischt zu trinken, das Herz; sie bat den Kommandanten, noch ein Gebet sprechen zu dürfen vor dem Tode. Es wurde gestattet. Sie hob die Augen angstvoll zum Himmel und öffnete den Mund, aber sie fand keine Worte: auf ihrer Verbrecherlaufbahn hatte sie das Beten verlernt. Da warf sie sich neben der Leiche ihres Geliebten auf die Kniee, küßte seine entfärbten Lippen, sah ihm innig ins Gesicht und rief, während ihr zwei Thränen über die Wangen rollten:

‚Ah, Du bist noch immer schön! Das ist ein Zeichen, daß die Madonna Dir vergeben hat, dann kann sie auch mir verzeihen‘ – und von sechs Kugeln getroffen, sank sie bei der Leiche des Briganten nieder. Dieses Weib hatte den Tod tausendfach verdient, und dennoch – hätte ich damals zu kommandiren gehabt, so wäre die Hinrichtung unterblieben.“

Der Kapitän schwieg, und wir nahmen mit warmem Danke Abschied, da über seinen Erzählungen die Nacht schon tief hereingebrochen war.

Mir ertheilte er auf das Liebenswürdigste die Erlaubniß, seine Erinnerungen, die noch niemals niedergeschrieben waren, aufzuzeichnen. Ich habe es, so weit mir mein Gedächtniß treu blieb, mit des Kapitäns eigenen Worten gethan, und wenn ich ihnen nicht das Feuer und die Lebendigkeit des mündlichen Vortrags einzuhauchen vermochte, so möge mir der Leser verzeihen: wurden sie doch von einem Augenzeugen und Dichter und in der schönsten Sprache der Welt erzählt.


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