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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Blätter und Blüthen.

Kriegsminister Boulanger. Von dem Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt: das ist ein bei unseren Nachbarn jenseit des Rheins in Schwang befindliches geflügeltes Wort; doch ebenso gut kann man sagen, daß dort auch oft nur ein Schritt ist vom Lächerlichen zum Erhabenen, und Mancher, den vielleicht anfangs der Spott der Menge begrüßt hat, richtet sich auf einmal auf einem geschichtlichen Piedestal auf. Zwischen diesen beiden Gegensätzen schwankt auch das Bild des französischen Kriegsministers hin und her, in welchem die Einen nur einen ruhmredigen Soldaten sehen, die Andern einen großen General und vielleicht sogar den Diktator der Zukunft. In hunderttausend Exemplaren ist seine illustrirte Lebensbeschreibung auf den Boulevards verkauft worden: er selber sah sich zuletzt durch die Angriffe der Presse genöthigt, den weiteren Verkauf dieser Broschüre, deren Verfasser jedenfalls dem Kriegsministerium nahe steht, dem Verleger zu verbieten: mit welchem Rechte, ist zweifelhaft. In dieser Broschüre wird der Held abgebildet hoch zu Roß, mit wallendem Federbusche, und in einem zweiten Bilde wird dargestellt, wie die Tonkintruppen vor ihm vorüber defiliren, wobei für den Präsidenten der Republik offenbar kein Platz vorhanden war. Beide Bilder sind in grellem Farbendruck ausgeführt; in ebenso grellen Farben ist der Text gehalten, welcher die Verdienste des Helden um das Vaterland schildert. Von seiner Persönlichkeit heißt es: „Von mittlerem Wuchse, kräftig gebaut, vereinigt General Boulanger in sich alle Merkmale der Jugend und der Kraft. Sein Antlitz athmet jene Kaltblütigkeit, von welcher er erst kürzlich neue Beweise gegeben; das blaue Auge ist lebhaft und klar, unter der scharfgeschnittenen Nase ragt ein dichter blonder Schnurrbart, in einen starken Vollbart übergehend, darunter ein Mund, der selten lächelt, es sei denn, daß der General sich als Familienvater zeigt; denn dieser kühne Soldat, dieser tapfere, mit Narben bedeckte Officier, welcher im Dienste so scharf, so rauh sein kann, ist der beste aller Väter und, wie alle Starken, nur schwach gegenüber seinen Kindern.“

Das ist der „erhabene“ Boulanger; daneben wird auch der „lächerliche“ auf den Boulevards verkauft, eine Schmähschrift mit Illustrationen, welche den General in verschiedenen Stellungen mit komischem Anstrich zeigen und außerdem die Schwankungen seines Herzens von Napoleon zu den Orleans und dann zur Republik in sinnbildlicher Weise sehr bezeichnend darstellen. Dies wankelmüthige Herz wird bei uns Deutschen einer scharfen Kritik begegnen: bei den Franzosen steht’s nicht so schlimm damit; denn die Meisten, die im öffentlichen Leben eine Rolle gespielt, haben ein ganzes Sündenregister von Wandlungen zu verzeichnen; wo die Staatsform selbst so oft umgestürzt wird, da werden ja die Diener des Staats immer in Mitleidenschaft gezogen und sie müssen, wenn sie ihre Stellen behaupten wollen, in die stets neuen Hochrufe mit einstimmen, die den wechselnden Staatsgewalten gebracht werden. Boulanger hat sich keinesfalls dadurch unmöglich gemacht, daß er seine früheren Beziehungen zum Herzog von Aumale verleugnete, während die monarchischen Blätter seine Briefe mit den Faksimiles seiner Handschrift zum Abdruck brachten: Briefe, in denen er für seine Beförderung sich um die Fürsprache des Herzogs bewirbt und ihm seinen Dank und seine dauernde Ergebenheit ausspricht. Das steht nun freilich nicht im Einklang mit der feindseligen Maßregel, daß er den Namen des Herzogs jetzt aus der Armeeliste ausstrich; doch weder Vergeßlichkeit noch Undank sind Todsünden in den Augen der Franzosen: dadurch verliert Boulanger nicht sein Ansehen, wenn sich auch eine Gegenpartei gebildet hat, die den stürmischen Hochrufen vor den Kasernen oder wo er sonst erscheint, ein Hoch auf Monseigneur, den Herzog von Aumale entgegensetzt. Sollte die Partei Gambetta’s und Ferry’s wieder ans Ruder kommen, so ist der volksthümliche General der Boulevards allerdings in seiner Stellung bedroht, wenn ihn auch die Pariser Radikalen, besonders der mächtige Clemenceau beschützten. Vorläufig ist der schnauzbärtige Haudegen, der gelegentlich in die Posaune der Patriotenliga stößt, in Paris sehr populär, und selbst der Präsident Grévy hat ihn durch Verleihung eines hohen Ordens ausgezeichnet, zum Dank für seine Verdienste um die Neugestaltung der Armee. †      

Die Deportation nach Sibirien. Das riesige Land, das für die Weltwirthschaft wie für die wissenschaftliche Forschung von gleichem Interesse ist, hat neuerdings eine eingehende Darstellung erfahren in dem von Petri übersetzten russischen Werke von N. Jodrinzew „Sibirien“ (Jena, Costenoble). Von besonderem Interesse sind die Mittheilungen über die Deportation in jenes Land, über welche zum großen Theil in Deutschland noch unrichtige Anschauungen herrschen. Die Zahl der Deportirten beträgt in neuester Zeit jährlich 18000 bis 20000, während sie früher sich auf 8- bis 9000 belief. Die Deportation wächst in unglaublicher Weise an, man hat sich derselben im Interesse der Strafe und auch der Vorbeugung von Verbrechen und schließlich auch im Interesse der Kolonisation bedient. In der Regel glaubt man in Deutschland, daß nur politische und andere Verbrecher nach Sibirien verbannt werden; doch ein Register der Verbannten aus dem Jahre 1884 ergiebt, daß die große Mehrzahl auf Anordnung der Gemeinden dorthin verbannt werden. Die Zahl derartiger Verbannter erreicht die Ziffer von 4565, die fast doppelt so hoch ist als diejenige der nach Sibirien übergesiedelten Verbrecher; hierzu kommen die Vagabunden, deren Zahl sich auf 1467 beläuft. Es ist dies also eine bequeme Manier, sich die Unterstützungsbedürftigen vom Halse zu schaffen, und manche deutsche Gemeinde würde sich auch ein kleines Sibirien zu diesem Zwecke wünschen.

Die Frauen begleiten sehr oft ihre Männer, während das Umgekehrte in den seltensten Fällen geschieht: in jenem Register werden nur drei freiwillige Männer aufgeführt, die ein solches Opfer gebracht haben. Die Sterblichkeit unter den Frauen ist groß, ihr moralisches Verkommen während des Aufenthaltes bei den Verbannten sehr bemerkbar. Außerordentlich aber ist die Sterblichkeit der Kinder während der Reise: im Jahre 1874 wurden aus Moskau Arrestantenkinder entsandt, die an Masern erkrankt waren; diese Kinder verschleppten eine Masernepidemie; bei dem Mangel an medicinischer Hilfe auf den Barken und Dampfschiffen, auf den Etappenpunkten und während der Fußreise in Sibirien erlag die Hälfte aller Kinder dieser Krankheit.

Die Lage der Verbannten ist eine trostlose und elende: nur ein geringer Theil sind Hausbesitzer, die meisten Heimatlose, die in elenden Hütten wohnen, bei den Bauern arbeiten, von ihnen durch Vorschüsse in fortwährender Sklaverei gehalten werden. Suchen sie Arbeit bei den Goldwäschen, so geht es ihnen nicht besser. Das Verhältniß der Verbannten zu den Einheimischen ist ein sehr ungünstiges: jene gelten diesen als gebrandmarkte Verbrecher, mindestens als Leute von zweifelhafter Moralität. Die Versuche mit Strafkolonien hatten bisher nicht den gewünschten Erfolg. Wie viele entsprangen schon auf dem Wege, mehr als 15% von 120000! Im Ganzen hat die Verbannung nach Sibirien, die oft ohne Gesetz und Urtheil von der Willkür der Verwaltungsbehörden und der Gemeinden ausgeht, etwas Befremdendes für die im übrigen Europa herrschenden Anschauungen. †      

Ein altenburgisches Bauernhaus in ursprünglicher Gestalt, wie es die Vorfahren der altenburgischen Bauernschaft bewohnten, die, wie allgemein bekannt, das von diesen in Sitte und Brauch Ererbte in vielen Stücken noch heute in Treue bewahren, erregte wegen seiner originellen Einrichtung auf der letzten Altenburgischen Landesausstellung allgemeines Interesse. Das mit grünem Staket versehene Vorgärtchen fehlt demselben nicht, ebenso wenig am Giebel der grüne Vogelbauer für die Wachtel, einen Lieblingsvogel des altenburgischen Getreidebauern. Der Eingang zum Hause befindet sich an der rechten Seite desselben. Der kleine Flur ist mit Ziegelsteinen gepflastert. Ein wenig über Mannshöhe ist an der linken Wand des Flurs der Tellerkasten angebracht, aus dem sich jeder Gast – das Innere ist das einer altenburgischen Dorfschenke – seinen hölzernen Teller, auf dem er zu essen beabsichtigte, selbst mitnahm. Mächtige, quadratförmige, dunkelroth angestrichene Tische nebst gleichfarbigen Bänken füllen das Zimmer, welches das ganze Erdgeschoß umfaßt. Zur Linken der Thür befindet sich an der Wand ein gleichfalls dunkelrothes, hölzernes Gestell, der Aufbewahrungsort einer Anzahl kleiner, niedriger Tassen und grell bemalter Teller und Schüsselchen. Zur Rechten der Thür sind in bequem zugänglicher Höhe der Wand zwei Nischen angebracht. In der unteren steht die zinnerne Waschschüssel nebst der „Handquehle“ zum Allgemeingebrauch, in der oberen zwei kleine Handlampen zum Hausgebrauch in Küche und Keller und zwei – Schnapsfläschchen zum privaten Handgebrauche; – in der Mitte der linken Wand „der Seiger“, eine jener heute selten gewordenen Wanduhren, die „vom Kopf bis zu den Füßen“ in ein hölzernes Gehäuse, den Seigerschacht, gehüllt waren. Auf einem Brett an der der Thür gegenüberliegenden Wand über den kleinen, schmalen, quadratischen Fenstern stehen verschiedenartige Krüge und Büchsen und Töpfe, wie sie die wirthliche Hausfrau der Neuzeit etwa zur Aufbewahrung gerösteten Kaffees oder auch „eingemachter“ Früchte benutzt. Hier aber haben dieselben noch einen anderen Zweck, nämlich den von – Dokumentenschränken. An der rechten Wand: der Ofen, aber nicht etwa einer jener vierschrötigen Kachelöfen, die eine so große Nachhaltigkeit zu entwickeln vermögen, sondern ein Ofen von schlanker Gestalt, allerdings auch aus grob und grell bemalten Kacheln zusammengesetzt, aber in Aus- und Einbuchtungen spitz zulaufend. Dicht daneben befindet sich in der halben Höhe der Wand der Käseschragen, auf welchem das weitberühmte Erzeugniß altenburger Land- und Milchwirthschaft getrocknet wird. Auf der Seite der Thür, rechts von der Waschschüssel und den Handlampen und den Schnapsflaschen: der Schanktisch und hinter diesem die Backstube und der Backofen, der draußen neben der Hausthür weit aus der Mauer herausragt. Hier sind die Wirthin und ihre Gehilfinnen in der althergebrachten Tracht, deren Eigenart ja wohlbekannt ist, in emsigster Thätigkeit beim Kaffeebereiten und Kuchenbacken. Denn der Nachfrage vermögen sie kaum zu genügen. Am glühenden Backofen aber steht der Wirth in weißen Kniestrümpfen, umfangreichen, schwarzsammtenen Pumphosen und weißen, bauschigen Hemdärmeln, im Schweiße seines Angesichts. Aber die Erzeugnisse dieser Backstube sind vortrefflich. Der Altenburger versteht seinen Mehl- und Butter- und Milch- und Eierüberfluß anzuwenden. Wem die Wahl schwer wird unter den verschiedenen Kuchensorten, welche die altenburger Bäuerinnen hier bereiten – aus eigener Ueberzeugung vermag ich aus der Schule, oder vielmehr aus der Küche zu plaudern: – der Platzkuchen ist der allerbeste! H. Meißner.     

Das Strafgericht. (Mit Illustration Seite 737.) Verbotene Frucht schmeckt bekanntlich süß. Nur eine kleine Bedingung darf dabei nicht außer Acht gelassen werden: die – sich nicht ertappen zu lassen, wenn die begehrlichen Finger sich nach einer solchen „süßen“ Frucht ausstrecken. Sonst kann’s allzuleicht kommen, daß den Näschern der Geschmack an der verbotenen Frucht gründlich verdorben wird, wie zum Exempel den drei Missethätern auf unserem Bilde. Was sie verbrochen haben, steht zwar nicht auf ihren Gesichtern geschrieben, aber daß sie ertappt, in flagranti, das heißt „auf frischer That“ ertappt worden sind, wird ohne viel Kunst jeder schon aus ihrer beklommenen Haltung herauslesen können. Wer sie erwischt hat, ist unschwer zu erkennen; schon die selbstbewußte Haltung des Gemeindedieners läßt es errathen, wer der Häscher war. Und solch ein Unglück! Denn dieser starre Vertreter des Gesetzes machte nicht viel Federlesens. Die Uebelthäter wurden zum gestrengen Amtmann geführt und von dort in die Schule. Und das war das Schlimmste. Denn dort gab’s, wie vorauszusehen, nicht nur eine derbe Strafpredigt und Schlimmeres, sondern sie wurden auch ihren Mitschülern recht eindringlich als Nichtsnutze vorgestellt, und das hieß ihnen den Spaß auf die Dauer verderben. **     

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 739. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_739.jpg&oldid=- (Version vom 23.12.2022)