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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Sache zu dienen, seinen ritterlichen Degen unter den Oberbefehl eines Crocco[1] stellte, mit geheimer Mißbilligung an all den blutigen Streif- und Raubzügen in der Basilicata und Calabrien theilnahm, um endlich nach unsäglichen Leiden, Mühen und Entbehrungen sein trauriges Mißverständniß eben so tragisch wie heroisch zu büßen.

Ueber elf Jahre währte der grausige Vernichtungskampf, der in seiner gesetzlosen Wildheit fürchterlicher war als jeder auswärtige Krieg und die besten Kräfte des jungen Italien aufzehrte. Für jede zersprengte Bande wuchs eine neue aus dem Boden, bis 40000 Briganten die heimische Erde mit ihrem Blute gedüngt hatten. Ein erschütterndes Epos, reich an wunderlichen und entsetzlichen, rührenden und lächerlichen Episoden, das leider keinen Sänger gefunden hat; denn die Abneigung, von ihren Erlebnissen zu reden, ist Allen gemeinsam, die an der blutigen Menschenjagd betheiligt waren, und die liebenswürdigsten Gesellschafter werden plötzlich verstockt und wortkarg, wenn man sie nach ihren Abenteuern während des „Brigantaggio“ fragt.

Ein Mann, der in Italien eine eigenartige litterarische Stellung einnimmt, Cav. Giuseppe Petriccioli, Kapitän der Bersaglieri und „poëta latino“, wie ihn seine Umgebung nennt, wurde mir schließlich als derjenige bezeichnet, der meine Wißbegier am besten befriedigen könnte. Dieser treffliche Schriftsteller und verdiente Officier hat sein halbes Leben auf der Brigantenjagd zugebracht und mehrere der schlimmsten Bandenführer mit eigener Hand getödtet. Inmitten des schrecklichsten aller Kriege, während der Streifereien auf die Banden Manzi’s und Capuccino’s, hat er seine gefeierte Hymne auf den Frieden gedichtet, in welcher er die allermodernsten Errungenschaften der Kultur in antiker Form und einem für klassisch erklärten Latein besingt. Ich kannte das Gedicht und die ungewöhnliche Art, wie es entstanden ist: der Kapitän hatte in jenen drangvollen Tagen des Brigantaggio einen Band neuer Gedichte Viktor Hugo’s zur Hand bekommen, in denen der „Dichter der Menschlichkeit und Brüderlichkeit“, der nie das Blut auf den Schlachtfeldern fließen sah, die Jugend Frankreichs zum unversöhnlichen Rachekrieg gegen Deutschland aufrief, und von heiliger Entrüstung ergriffen, schrieb er, der Soldat, den Hymnus auf den Frieden, der, wie der Verfasser in der Vorrede sagt, vom Frieden nichts hat als den Namen.

Im Golf von Spezia, inmitten romantischer Olivenhaine, liegt vom Meere bespült das Gut, wohin sich der gelehrte Kapitän aus dem Geräusch der Waffen und dem litterarischen Getrieb zurückgezogen hat, um in Ruhe die väterliche Scholle zu bebauen, seine Reben zu pflanzen und sein Oel zu pressen. Mit einer kleinen Gesellschaft suchte ich ihn eines Abends auf von dem benachbarten Sän Terenzo aus, wo ich schon vor Jahren seine Bekanntschaft gemacht hatte.

Unter dem alten himmelhohen Palmbaum, der von seinem Hügel hoch auf das Meer hinunterblickt, fanden wir unsern Diocletian bei seinen ländlichen Beschäftigungen. Wir wurden aufs liebenswürdigste empfangen und auf der rebenumrankten, marmornen Terrasse mit Wein und Obst bewirthet; aber kaum hatte ich das Wort Brigantaggio ausgesprochen, als sich das Gesicht des Kapitäns verfinsterte; er suchte das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, und nur mit Mühe gelang es, ihn bei dem Gegenstand festzuhalten.

Infandum, regina, jubes renovare dolorem,“[2] seufzte er endlich, und mit diesem Citat aus seiner Lieblingssprache ergab er sich denn auch in sein Schicksal.

„Aber ist es nicht sündhaft, sich den Abend durch so gräßliche Erinnerungen zu verderben, sich in Zeiten und an Orte zu versetzen, wo wir zwölf Jahre lang den Segen menschlicher Gesellschaft entbehrten, wo jeder Begegnende auf der Straße den Gedanken wachrief: ‚Wenn es kein großer Verbrecher ist, so ist es doch gewiß ein kleiner‘?

Damals hat mich nur die Poesie vor der völligen Verwahrlosung und moralischen Zerrüttung bewahrt. Sobald der Dienst nicht alle meine Sinne in Anspruch nahm, ließ ich zwischen mir und der Außenwelt einen Vorhang fallen und zog meinen Virgil aus der Tasche. Bei schneidender Winterkälte, wenn wir in versteckten Höhlen im Hinterhalt lagen, ließ ich meine Bersaglieri sich der Länge und Quere nach wie Holzscheiter aufschichten, um sich gegenseitig warm zu halten, setzte mich auf einen Steinblock am Eingang und dichtete, den Säbel im Arm, meinen Hymnus auf den Frieden. Aus dem Marschtakt meiner Bersaglieri hörte ich den Rhythmus des Hexameters heraus; meine Soldaten sahen mir dann nur auf den Mund, und wenn ich murmelnd die Lippen bewegte, so flüsterten sie sich zu: ‚Der Kapitän dichtet‘ und hielten sich mäuschenstille.“

So redete der Kapitän sich unversehens in das Erzählen hinein, und wie er erzählte! Wir hüteten uns wohl, ihn durch eine Frage zu unterbrechen. Es war, als hörten wir die abenteuerlichen Gesänge Ariost’s, als zögen die Marfisen und Bradamanten leibhaftig an uns vorüber, wenn er z. B. von dem Briganten erzählte, den er einst bei einem Treffen im Handgemenge vom Pferde riß, weil der Revolver versagt hatte, und der ihm vom Boden aus in dem krächzenden Neapolitaner Dialekt zurief:

„Kapitän, schone mich, ich bin ein Weib!“

Dazwischen drängte sich das komische Element: so schilderte er ein Gastmahl bei dem Syndikus eines abgelegenen Abruzzennestes, wo nach einer Reihe höchst fragwürdiger Gänge ein Gericht erschien, das die größte Aehnlichkeit mit Flußkrebsen hatte; aber wo sollten an dem steilen, wasserlosen Ort Krebse herkommen? Bei näherer Besichtigung stellten sich die vermeintlichen Krebse als gebackene, mit wilden Spargeln garnirte Grillen heraus.

Die Officiere, die sich für gefoppt hielten, wollten aufbrausen, aber ein Blick auf die fröhlich schmausende Tischgesellschaft belehrte sie, daß man ihnen wirklich das Beste vorgesetzt hatte, was das Haus und die Stadt zu bieten vermochten.

Dann erzählte er von dem abenteuerlichen Zauberwald, dem Bosco di pontano[3] zwischen Spezzano-Albanese und Castrovillari, wo er mit seiner Kompagnie vierzehn Tage lang, auf allen Vieren rückwärts kriechend und mit den Füßen auf das stachlige Gestrüpp einhauend, sich durch den Urwald Bahn brechen mußte, immer hinter den Briganten her, deren Stimmen oft ganz in der Nähe zu hören waren. Eines Tages ertönt plötzlich aus den Reihen seiner Mannschaft ein Hilferuf, dem ein zweiter und dritter und bald ein lautes Jammergeschrei folgt. Ungefähr ein Dutzend Bersaglieri sind buchstäblich von der Erde verschlungen worden und stecken bis über die Hüften im Boden, in den sie bei jeder Bewegung tiefer einsinken. Der Kapitän hatte kaum Zeit gehabt, die Lage zu überblicken, als auch unter ihm der Grund wich und er hilflos in einer zähen, breiigen Masse versank. Nun begriff er, was der Name des Waldes zu bedeuten hatte, und erkannte zugleich den Verrath seiner Führer und die Arglist der Briganten, die ihn durch ihren Rückzug auf diesen trügerischen Grund gelockt hatten. Durch zugeworfene Stricke gelang es ihm mit Einbüßung eines Schuhs, sich und seine Leute auf festen Boden zu retten und dadurch dem Schicksal zu entgehen, das ihnen an dieser Stelle zugedacht war.

Nach langen qualvollen Kreuz- und Querzügen kamen sie endlich barfuß mit zerrissenen Kleidern, blutenden Händen und Füßen auf einer Lichtung an ein Gehöft, wo ihnen die vorüberziehenden Briganten einen gräßlichen Gruß hinterlassen hatten: da lagen auf einen Haufen geworfen neun Leichen von Männern, Weibern und Kindern, denen mit teuflischem Spott die abgehackten Gliedmaßen vertauscht und die eigenen Ohren in den Mund gesteckt waren – vielleicht das Bravourstück einiger Novizen, die derartige Proben ihrer „Seelenstärke“ abzulegen hatten, ehe sie endgültig in die Bande aufgenommen wurden.

Wuth und Rachedurst gaben den Verfolgern bei diesem Anblick neue Kräfte; sie rafften sich auf und setzten noch in derselben Stunde den Marsch fort, auf dem sie der unsichtbare, durch das Dickicht gedeckte Feind unablässig bedrängte,, indem er immer langsam vor ihnen her den Wald durchzog, bis er endlich an das Ende unweit der Grenze gelangte, wo er sich schon auf bourbonischem Gebiet in Sicherheit glaubte. Aber es sollte anders kommen. Auf der Landstraße von Castrovillari liefen die abgematteten Briganten, denen die Kompagnie Bersaglieri auf den Fersen folgte, einem Sergeanten in die Hände, der mit einer Handvoll Karabinieri eine staatliche Geldsendung eskortirt hatte und auf dem Rückweg

Empfohlene Zitierweise:
verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 731. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_731.jpg&oldid=- (Version vom 12.11.2022)
  1. Berüchtigter Brigantenführer aus der Basilicata.
  2. „Unsäglichen Schmerz läßt Du mich, Königin, erneuern.“ Mit diesen Worten beginnt Aeneas in Virgil’s „Aeneide“ der Königin Dido von dem Untergang Trojas zu berichten.
  3. Sumpfwald