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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

alle Geistlichen ohne Ausnahme augenblicklich diesen Ort zu verlassen und sich nach Maida zu begeben haben! Eure Kinder sollen ohne Taufe zur Welt kommen, Eure Greise ohne die Sakramente sterben. In Eurer Gemeinde werde ich Euch auf ewige Zeiten abschließen, und Ihr sollt nicht hoffen, meiner Gerechtigkeit zu entrinnen, indem Ihr in eine andere Gemeinde auswandert. Die Einwohner der benachbarten Ortschaften werden strenge Wache halten, und wer sich untersteht, herauszukommen, wird niedergeschossen wie ein toller Hund.‘

Man muß den Ort kennen, um den Jammer und die Verzweiflung zu begreifen, die das Volk bei diesen Worten befielen. Manhès verließ noch desselben Tages mit seiner Eskorte von sechzig Ulanen Serra. Als er fortritt, war die Stadt wie ausgestorben; aber kaum auf freies Feld gelangt, stieß er auf eine gespenstische Procession: es war die ganze Bevölkerung, die barfuß, im Büßerhemd auf den Knieen lag, sich die Brust mit Steinen schlug und um Gnade flehte. ‚Tödten Sie uns lieber,‘ riefen Alle, ‚besser sterben als so leben!‘

Manhès blieb unerbittlich; er trieb sein Pferd an und sprengte vorüber. Und obwohl der Klerus besonders in den höheren Sphären sich die Sache sehr zu Herzen nahm, wurde das Urtheil vollzogen. Alle Geistlichen, selbst ein achtzigjähriger Greis, der getragen werden mußte, wanderten nach Maida aus.

Dieser Bann hatte ein wunderbares Resultat. Das Volk von Serra erhob sich auf den Ruf eines Gutsbesitzers hin wie ein Mann und machte eine grimmige, rastlose, unerbittliche Jagd aus die Briganten, die nicht eher endete, als bis der letzte Bandit gefallen war.

Der ganze Kampf dauerte nur wenige Tage, und als er zu Ende war, wurde der Bann aufgehoben. Die ganze Bevölkerung zog in Procession nach Maida, um ihre Priester zurückzuholen. Und seit dieser Zeit hatte das Land keine Truppen mehr zu seiner Vertheidigung nöthig: die Nationalgarde besetzte ein kleines Fort in einer Gebirgsschlucht und hielt sich tapfer daselbst. Ihren Lieblingsfluch per santo diavolo! haben die Bewohner jener Provinz seitdem in ein per santo Manhès umgewandelt.“


Erholungsreisende und Bergfexe.

„Vernunft wird Unsinn, Wohlthat Plage.“     
Goethe.     

Ich saß in dem behaglichen Speisezimmer des Kuraten von St. Gertraud, nachdem ich Vormittags die auf das Stilfser Joch führende Post in Gomagoi verlassen und zu Fuß das etwa zwei Stunden lange Suldenthal heraufgekommen war. Die angenehme Wanderung, Angesichts der großartigen Gebirgsscenerie, welche sich mit jedem Schritte weiter und herrlicher vor mir aufthat, hatte mich wunderbar erfrischt, und heiteren Sinnes musterte ich die Theilnehmer an der sonderbaren Table d’hôte, welche in diesem entlegenen Gebirgswinkel unter dem Vorsitze des freundlichen Pfarrherrn und Hôteliers von St. Gertraud stattfand.[1]

Eine Table d’hôte in einem städtischen Hôtel oder auch in einem fashionablen Bade-Orte hat stets ein mehr oder weniger gleichmäßiges, meist etwas langweiliges Gepräge. Nicht so hier. „In den Bergen ist Freiheit,“ besonders auch was die Toilette anlangt. Davon hatte ich mich auf meiner diesjährigen Gebirgsreise mehr als je überzeugen können. War doch gestern erst auf der Terrasse in Trafoi zu meinem Erstaunen hinter einem Engländer mit flatterndem weißen Hutschleier unser guter, sonst mit peinlichster Sorgfalt gekleideter und rasirter Justizrath R. gänzlich verwildert, in einer Lodenjoppe und mit einem Stoppelbarte von mindestens acht Tagen, aufgetaucht, so daß ich mich ernstlich fragte, ob er es denn auch wirklich sei! Und in Eyrs war ich der Frau Geh. Kommerzienräthin B. mit drei Töchtern, sämmtlich mit Alpenstöcken und keck auf die Häupter gesetzten Miesbacher Hütchen mit Gemsbärten, begegnet, hatte auch den jungen Banquier Isidor S. begrüßt, welcher ihnen in Schnürstiefeln, Wadenstrümpfen, Kniehosen und mit einer drohend nach vorn gerichteten Spielhahnfeder auf dem Hute folgte, in der einen Hand ebenfalls den unvermeidlichen Alpenstock, in der andern einen Violinkasten tragend. Ich hatte bei dem Anblicke still in mich hinein gelacht, aber das Lachen war mir vergangen, als nach dem Abendessen die älteste der drei jungen Damen sich an den Flügel im Korridor setzte, Herr Isidor seine Violinbüchse öffnete und, während ich schon lange im Bette lag, mit seiner Partnerin die schmelzendsten Duette losließ!

Ein Klavier – davon hatte ich mich sofort überzeugt – gab es nun glücklicherweise in dem Speisesaale zu St. Gertraud nicht, aber wohl eine so seltsam zusammengewürfelte Gesellschaft in allen möglichen und unmöglichen Toiletten und Kostümen, wie sie eben nur in einem renommirten, internationalen Gebirgsorte denkbar ist. Das Gespräch drehte sich hauptsächlich um Bergbesteigungen, und die Moränen, Gletscher, Schneefelder, Eisstufen, Kamine und „Wächten“ schwirrten ohne Unterlaß die Tafel entlang. Nicht lange dauerte es, so wurde auch hier das Lieblingsthema der diesjährigen Gebirgssaison, der Pallavicini’sche Unglücksfall, erörtert. Von den Einen ward der am Groß-Glockner mit einem Freunde und zwei Führern abgestürzte junge Markgraf ob seiner zahlreichen kühnen Besteigungen und seiner heldenhaften Kraft bewundert und gefeiert, von den Anderen wegen seiner zwecklosen, tollkühnen Bravourstücke, die früher oder später zu solchem Ende führen mußten, getadelt und verdammt.

„Es ist der reine Wahnsinn,“ mischte sich mein Tischnachbar, den ich seinem Aussehen und Dialekte nach für einen preußischen Beamten hielt, ins Gespräch, „der reine Wahnsinn, der jetzt in die Leute gefahren ist. Ich gebe zu, daß in der Anspannung aller Körper- und Willenskräfte, wie sie eine schwierige Besteigung erfordert, etwas Kräftigendes für Körper und Geist liegt. Auch mag der Blick von höchster Höhe unter günstigen Umständen ganz ungeahnte, erhebende Genüsse bereiten. Aber um all Das ist es ja den eigentlichen Bergfexen gar nicht zu thun! Es ist die Gefahr, welche sie in erster Linie lockt, und der zweifelhafte Ruhm, einen bis jetzt für unmöglich gehaltenen, noch von Niemand vor ihnen gemachten Aufstieg durchgeführt zu haben. Eine Besteigung auf gefahrlosem, schon von Anderen gemachtem Wege reizt sie nicht, und wäre die Aussicht oben noch so herrlich! Dagegen eine noch niemals bestiegene, möglichst senkrechte Wand, auf schmalsten ‚Bändern‘ oder in Eis geschlagenen Stufen hinaufzuklettern, wo mit jedem Schritte der Sturz in eine grauenhafte Tiefe droht – das erst ist ihnen das wahre Vergnügen, und je nach der Zahl solch unsinniger Besteigungen wächst ihr Ruhm wie der des Indianers nach der Zahl von Skalpen erschlagener Feinde.“

„Glauben Sie nicht,“ wandte ich mich jetzt an meinen Nachbar, „daß die in lezter Zeit sich bedenklich häufenden Unglücksfälle abkühlend wirken und eine Einschränkung dieses gefährlichen Sports herbeiführen werden?“

“Im Gegentheil,“ erwiderte der eifrige Mann. „Es scheint ja fast, als ob der Unsinn dadurch nur noch an Reiz gewönne! Fangen doch jetzt sogar die Damen an, sich an demselben zu betheiligen! Sehen Sie dort an der Wand die zahlreichen photographischen Portraits von Besuchern des Suldenthals. Sie finden verschiedene weibliche Portraits, und auch das einer Dame darunter, welche schon über hundert Spitzen ersten Ranges bestiegen und sich dadurch eine gewisse Berühmtheit in alpinen Kreisen, sowie den Namen ‚Spitzenkönigin‘ erworben hat. Sie hat übrigens bereits gefährliche Nebenbuhlerinnen, und wenn das noch eine Weile so fortgeht, werden wir unsere Frauen und Töchter nicht mehr mit Stickrahmen und Stricknadeln, sondern mit Steigeisen und Gletscherbeilen in die Sommerfrische ziehen sehen. Ich danke!“

Alle Umsitzenden lachten über den komischen Zornesausbruch des Mannes, der nun wüthend mit Messer und Gabel hantirte und große Brocken saftigen Gemsbratens hinunterschlang. Nur ein ihm gegenüber sitzender junger Mann sah sehr mißvergnügt drein. Derselbe war, wie ich gehört hatte, kurz vor Tisch von der Ortlerspitze zurückgekehrt, und sein Anzug, seine kräftig entwickelte Muskulatur und tief gebräunte Hautfarbe ließen in ihm einen jener „Bergfexe“ vermuthen, gegen welche mein Nachbar eben gewüthet hatte.

„Gestatten Sie mir die Bemerkung,“ begann er jetzt, indem er sich an den Letzteren wandte, „daß Sie sehr stark übertreiben. Es mag ja einzelne Herren und vielleicht auch Damen geben, bei welchen die Besteigungen zur Manie geworden sind. Aber im Großen und Ganzen wird jetzt – besonders in Folge der dankenswerthen Bemühungen des deutschen und österreichischen Alpenvereins – die Erforschung unseres Alpengebiets und die Besteigung seiner Spitzen in durchaus rationeller Weise betrieben. Im Uebrigen finde ich, daß es Jedermanns eigene Sache ist, wenn er sein Leben an halsbrecherische Unternehmungen setzen will.“

Mein Nachbar ließ Gabel und Messer sinken und sah sein Gegenüber mit funkelnden Augen an.

„So? Finden Sie?“ knurrte er. „Nun gut, wenn Einer die Sache für sich allein macht! Aber die Führer? Wie denken Sie darüber? Sie finden wohl, daß es auch ihre Sache sei, ob sie ihre Haut zu Markte tragen wollen oder nicht? Wie aber, wenn die armen Teufel, um den ihnen gebotenen Lohn zu verdienen, um Frau und Kinder zu ernähren, trotz aller Bedenken und Einwände sich endlich von jenen unheimlichen Narren beschwatzen und verführen lassen, den Todesweg anzutreten? Glauben Sie nicht, daß Derjenige, welcher einen Anderen zu einem offenkundig lebensgefährlichen Wagestück verleitet, eine schwere Verantwortung auf sich nimmt? Ich meinestheils finde, daß man ihn sogar gesetzlich bestrafen sollte und daß es eine beklagenswerthe Lücke in unserer Gesezgebung wäre, wenn man es nicht könnte!“

Die Worte waren so laut gesprochen, daß sie die Aufmerksamkeit sämmtlicher Gäste erregten, und der junge Mann schickte sich eben zu einer Erwiderung an. Da ich einen Streit fürchtete, so kam ich ihm zuvor, indem ich die Frage an meinen Nachbar richtete:

„Sie sind schon längere Zeit im Gebirge?“

“Seit zehn Tagen. Ich reiste vom Starnberger See zu Fuß – ich mache so ziemlich Alles zu Fuß, das ist gesünder – an den Kochelsee, Tegernsee und Achensee. Von da durchs Zillerthal ins Duxerthal, über das Duxerjoch ins Schmiernthal, von Stafflach aus über den Brenner nach Gossensaß, von wo aus ich mehrere Exkursionen machte, dann nach Bozen, Meran, durch das Vintschgau nach Spondinig und hierher.“

„Ah! eine ziemlich anstrengende Tour, wenn Sie Alles zu Fuß gemacht haben.“


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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 714. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_714.jpg&oldid=- (Version vom 16.11.2022)
  1. Die Wirthschaftsleitung liegt in den Händen der Schwestern des Kuraten. Uebrigens ist es bekanntlich keine Seltenheit, daß an entlegenen Gebirgsorten, wo sich sonst kein Gasthaus befindet, die Verpflegung und Beherbergung der Fremden von den Geistlichen in ebenso freundlicher wie uneigennütziger Weise übernommen wird.