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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

wollte anfangs nicht; aber ich habe ihr kräftig ins Gewissen geredet – sie hat nämlich eines, das arme Ding, wenn es auch zuletzt ein bischen sehr verwildert war. Ein Strandvögelchen, das durchaus aufs hohe Meer wollte, wo es nichts zu suchen hatte und elend umgekommen wäre! Nun, ich denke, wir retten es noch. Habe auch schon eine Partie für sie in petto – der junge Papendiek aus der Schmiede in der Hafengasse – kreuzbraver Junge, der sie immer gern gemocht – aber ich halte Sie auf, Sie wollen zu Tisch gehen. Ich soll bleiben? – Unmöglich! habe noch für die halbe Nacht zu arbeiten! I nun, Sie werden mich ja nicht die ganze hier behalten, und das Schlafen habe ich mir, Gott sei Dank, so gut wie abgewöhnt. Wo soll ich sitzen? Zwischen den Damen! Die Perle im Golde! A propos Perle! Unsere von Meppen glänzte heute einmal wieder in ihrem reinsten ultramontanen Lichte. Wenn das unseren Kirchenpolitikern nicht die Augen beizt, so müssen sie staarblind sein, was denn freilich leider mit meiner Prognose stimmen würde.“

Es konnte nicht anders sein, als daß in unserem kleinen Kreise, in welchem unter den Männern drei sachmäßige Politiker waren und der vierte die politischen Dinge zu verstehen sich wenigstens emsig bemühte, die Rede fast ausschließlich über diese ging und immer wieder auf dieselbe zurückkam, so oft und so ernstlich man sich auch im Interesse unserer beiden Damen bemühte, das Gespräch in andere, glattere Bahnen zu lenken. Denn es ging bei den Debatten, in welchen Pahlen und der Professor meistens das Wort führten, nicht immer friedlich ab; der Schwerpunkt der Ueberzeugungen des russischen Nihilisten und derjenige des deutschen Fortschrittsmannes lagen eben zu weit aus einander – eine Differenz, die, wie der Professor uns belehrte, ihre völlige Erklärung fände, wenn man die Grundverschiedenheit der socialen und staatlichen Verhältnisse hüben und drüben in Betracht ziehe und dazu den Einfluß erwäge, den das gesellschaftliche Milieu, in welchem ein Mensch aufwachse, auf seine Denkungsart, seinen Charakter ausübe.

„Und da sollte ich meinen,“ rief er, „daß Sie, Herr Graf, und ich freilich sehr ungleiche Brüder werden mußten, die in Folge dessen unmöglich gleiche Kappen tragen können. Sie, der Abkömmling einer der vornehmsten Adelsgeschlechter, erzogen in der unmittelbaren Sphäre des Hofes – und was für eines! – ist es ein Wunder, wenn Ihr nur au sociale und moralische Extreme gewöhntes Auge auch in der Politik die Zwischenstufen nicht sieht? wenn der immer gewaltsam erregte, von Gewaltsamkeiten träumende Geist von den vermittelnden Elementen nichts weiß, oder doch nichts hält, nichts hofft? wenn er immer wieder auf ein Wunder hofft, au ein Wunder glaubt, welches allein in dieses Chaos Ordnung bringen soll? Unsereiner glaubt an kein Wunder; Unsereiner glaubt, daß in der großen und kleinen, äußeren und inneren Politik gerade so Alles mit Wasser gekocht wird wie in der Küche. Nur daß in meiner elterlichen Schmalhans Meister war und gar oft das Fleisch in die Suppe zu thun vergaß, wie ich ihm denn das im Dienst eines völlig abgehausten deutschböhmischen kleinen Landedelmannes just nicht groß verdenken kann. Da war denn die Noth groß, die mich armen Jungen zuerst beten und, als ich sah, daß dabei nicht viel herauskam, arbeiten lehrte. Bis zum vierzehnten Jahre mit der Fiedel und der Kehle – lachen Sie nicht, meine Damen: ich spielte eine ganz wackere Geige und hatte als Junge eine süße Stimme – sagten die Weiber – wenn dieselbe auch, wie ich vermuthe, seitdem in dem Staub der Schule, dem Qualm der Volksversammlungen und der Trockenheit unserer Parlamentsdebatten kläglich zu Grunde gegangen ist. Aber was ich sagen wollte, lieber Graf, wir Beide – Sie und ich – wir können eben nicht an demselben Strang ziehen; aber – um in dem Bilde zu bleiben – den Wagen nach derselben Seite ziehen, das können wir doch und wollen wir doch, und darauf wollen wir, wenn es Ihnen recht ist, mit einander anstoßen.“

Anmuthig-höflich, wie immer, kam Pahlen der Aufforderung nach; aber, wenn auch ein Lächeln seine Lippen umspielte, in seinen schönen Augen war finstere Nacht, und so hatte er deun kaum das Punschglas wieder niedergesetzt, als er mit vor Erregung bebender Stimme begann:

„Ich muß mir den Vorwurf unseres Freundes schon gefallen lassen: überall in der Welt wird mit Wasser gekocht, nur Wir Russen möchten mit Feuerwasser kochen. Auch hat er ja einsichtsvoll angedeutet, wie das so kommt. Aber, verehrter Herr Professor, Sie kennen unsere Verhältnisse doch nur aus der Lektüre und vom Hörensagen; ich aber, ich habe in dem Pandämonium gelebt, wenn man leben nennen kann, woran man nicht zurückdenken darf, ohne daß Einem das Blut in den Adern gerinnt, um im nächsten Moment –“

Er hatte das Gesicht mit beiden Händen verdeckt. Es war, als er es uns abermals zuwandte, noch sehr bleich – wie eines Menschen, der einen fürchterlichen Schmerz zu ertragen hatte – aber sein Mund versuchte doch schon wieder zu lächeln, und er sprach jetzt, Adele’s Hand ergreifend und an seine Lippen ziehend:

„Verzeih, Geliebte, ich weiß, wie Deine holde Seele leidet, wenn ich mich so hinreißen lasse! Verzeihen auch Sie, liebe Freunde, den schwachen Augenblick, der mir ja, Gott sei Dank, selten kommt! Möchte ich doch fast behaupten, daß ich von uns Allen sogar der größte Optimist bin. Oder wer wäre optimistischer als der Wunderglänbige, zu welchem mich unser ehrwürdiger Freund hier gestempelt? Nun denn: ich acceptire es, ich, der ich mein Volk als einen Leichnam gesehen habe und doch an seine Wiederauferstehung glaube! Nicht blos; meines Volkes! Krank, todtkrank ist ja die ganze moderne Menschheit. Ob Ihr die Ausgabe, sie zu heilen, lösen werdet? Wir müssen es ja hoffen, aber für jetzt liegt die Sache nicht gut. Mit der Emancipation der Handwerker und Arbeiter, wie sie auch bei Euch jetzt von oben beliebt wird, ist es ja selbstverständlich nichts. Aber mit der, welche jene Stände aus sich selbst heraus versuchen, wird es freilich ein anderes, kein besseres, Wohl aber schrecklicheres Ende nehmen, so lange sie auf sich selbst angewiesen bleiben, ihr Licht aus sich selbst schöpfen sollen, während die Gebildeten dem Treiben zusehen, mißtrauisch, ängstlich die einen, gleichgültig, stumpf die anderen, müßig die einen wie die anderen. Wer möchte Euren Stolz auf Eure Denker- und Dichterheroen nicht begreiflich finden! Und dennoch meine ich, neben diesem Glanz liegt ein schwärzester Schatten: die tiefe Kluft, welche gerissen ist und klafft zwischen dem kleinen Theil der Gebildeten unter Euch, welche den Heroen auf ihrer steilen Bahn zu folgen vermochten, und der großen Menge, der das nicht möglich war. Diese Kluft zu füllen, ist die Aufgabe Eurer Zukunft, und ich wiederhole es: für jetzt scheint mir dieselbe kaum in Angriff genommen. So lange man in einem großen Volke, wie das Eure, die gebildeten hochstehenden und einflußreichen Männer zählen kann, welche leben und wirken in der Erkenntniß, daß in der grundmäßigen Umgestaltung der socialen Verhältnisse die moderne Menschheit einzig und allein ihre Rettung zu finden vermag, glaube ich nicht an diese Umgestaltung und nicht an die Rettung.“

Mir schwebte auf den Lippen eine lebhafte Antwort, zu der mich Ellinor’s Blicke aufzufordern schienen. Als eine eben erst für die Freiheit Gerettete mußte sie den Zweifel des Grafen an unserer Zukunft besonders übel empfinden. Aber auch ihr Vater hatte den Blick verstanden und, mir zuvorkommend, sagte er, sich zu Pahlen wendend, in seiner gütigen Weise:

„Wer war es doch gleich, lieber Graf, der noch vor wenigen Wochen – an dem Abend, der unserm unvergeßlichen Freunde die ersehnte Freiheit und uns die traurige Gefangenschaft brachte – mit prophetischen Worten der europäischen Menschheit ihre Zukunft deutete – und dabei einem gewissen Volke, das er heute im Hintertreffen sieht, die Führerrolle zuwies? Erinnern Sie sich nicht?“

Pahlen nickte lächelnd, und in seinen glänzenden Augen, die er unverwandt auf den verehrten Mann gerichtet hielt, lag die Bitte, daß er fortfahren möge.

Er that es, jetzt das Wort an uns Alle richtend:

„Dennoch kann ich unserem Freunde in dem Vorwurf, den er uns heute macht, nicht so ganz Unrecht geben. Kann es uns aber Wunder nehmen, wenn unsere augenblicklichen Zustände ein so fratzenhaft verzerrtes Bild gewähren? Auf allen Gebieten wimmelt es von Leuteu, die in dem Lande des Nachdenkens, oft mit saurer Mühe, Ueberzeugungen eingesammelt haben, welche sie, an der Grenze der That angelangt, verstecken, verleugnen, als ob sie allein solche Kontrebande führten! Als ob nicht, wenn nur Jeder seine heimliche Waare deklarirte, dieselbe frei durchgehen müßte, da die Zollwächter nicht mehr wüßten, wohin mit den Beschlagnahmten! In den Augen unserer sogenannten guten Gesellschaft ist jeder Socialdemokrat officiell ein Lump. Vergangenen Winter hörte ich einen unserer ersten Geister in einer

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