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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

halb zutraulich zu ihm empor blickten. Trotzdem erschien ihm das kleine Dornröschen heute unsagbar lieblich in dem Anzuge von leichtem, zartrosigem Stoff, der nur mit einzelnen Gewinden von Heckenrosen geschmückt war und wie eine duftige Wolke die zierliche Gestalt umfloß. Dieselben rosigen Blüthen schimmerten auch in dem dunklen Haar, das eben so einfach geordnet war wie früher. Auf der ganzen Erscheinung lag etwas von der thauigen Frische einer Rosenknospe, die eben erst anfängt, sich dem Lichte zu erschließen.

„Und wie gefällt es Ihnen bei uns?“ fragte Hans jetzt, als das junge Mädchen schwieg. „Nicht wahr, das Leben der Großstadt hat etwas Berauschendes, Blendendes für Jeden, der es zum ersten Male kennen lernt?“

Gerlinde schüttelte das Köpfchen und sah vor sich nieder.

„Es gefällt mir gar nicht,“ gestand sie. „Ich wäre weit lieber daheim bei meinem Papa und bei meinem Muckerl. Hier bin ich so fremd und verlassen unter all den fremden Menschen; sie verstehen mich gar nicht, und ich verstehe sie auch nicht.“

„Das werden Sie schon lernen,“ tröstete der junge Mann.

Aber sie blieb bei ihrem Kopfschütteln. Das arme Kind hatte doch jetzt ein dunkles Bewußtsein seiner Lächerlichkeit und klagte in beweglichem Tone:

„Hier kümmern sie sich so wenig um ihre Stammbäume; Niemand weiß, daß wir aus dem zehnten Jahrhundert stammen und unser Geschlecht das allerälteste ist. Wenn ich davon spreche, dann sagt Hertha: Gerlinde, hör’ auf, Du machst Dich lächerlich! und die Tante sagt: Mein Kind, das paßt nicht hierher! und Graf Raoul lächelt in einer so verletzenden Weise! Ich weiß es jetzt, er macht sich nur lustig über mich. Herr von Wehlau Wehlenberg, nicht wahr, Sie finden das nicht lächerlich? Sie haben ja ein so lebhaft entwickeltes Standesgefühl, wie mein Papa sagt.“

Dem Ritter von Forschungstein wurde es doch etwas heiß bei diesem Appell an sein Standesgefühl. Es fiel ihm plötzlich ein, daß er jetzt seinen Uebermuth werde büßen müssen, denn sobald man in die Gesellschaft zurückkehrte und Gerlinde seinen Namen nannte, wurde sie aufgeklärt. Es gab nur ein Mittel, dem zuvorzukommen: er mußte es selbst thun.

„Wir haben in allen Adelsbüchern nachgeschlagen und haben auch endlich Ihr Geschlecht gefunden,“ fuhr die junge Dame wichtig fort, und urplötzlich wieder in den Chronistenstil verfallend, begann sie die betreffende Stelle aufzusagen:

„Die Herren von Wehlenberg, ein altes reichsfreiherrliches Geschlecht, seit dem Jahre sechszehnhundertunddreiundvierzig ansäßig in der Mark und reich begütert in den verschiedenen Provinzen, das derzeitige Haupt der Familie Freiherr Friedrich von Wehlenberg auf Bernewitz“ – hier brach sie ebenso urplötzlich ab und setzte betrübt hinzu: „Den Forschungstein haben wir aber nicht gefunden.“

„Den konnten Sie auch nicht finden, denn er existirt nicht,“ sagte Hans, der jetzt seinen Entschluß gefaßt hatte. „Sie und Ihr Herr Vater sind in einem Irrthum befangen, den ich allerdings verschuldet habe. Ich theilte Ihnen schon bei unserem ersten Zusammentreffen mit, daß ich ein Künstler sei.“

Gerlinde nickte ernsthaft.

„Ich habe es meinem Papa erzählt; er meint aber, das sei sehr unpassend für einen Mann von altem Adel.“

„Ich bin aber gar nicht von altem Adel, nicht einmal von neuem.“

Gerlinde sah ganz erschrocken aus und rückte eiligst seitwärts. Der junge Mann bemerkte das, und seine Stimme gewann einen Anflug von Bitterkeit, als er weiter sprach:

„Ich habe Ihnen eine Beichte abzulegen, gnädiges Fräulein, und um Verzeihung für eine Täuschung zu bitten, die eigentlich nur der Nothwehr entsprang. Ich kam an jenem Abende verirrt und durchnäßt nach der Ebersburg; es war weit und breit kein anderes Obdach aufzufinden; die Dunkelheit brach herein und der Herr Baron versagte mir den Einlaß, weil ich nicht ‚von Familie‘ war, wie er sich ausdrückte. Mir blieb nur die Wahl, wieder in das Unwetter hinauszugehen oder mich selbst in den Adelsstand zu erheben, und ich wählte das Letztere. Jetzt aber bin ich Ihnen die Wahrheit schuldig: ich heiße einfach Hans Wehlau, ohne jedes mittelalterliche Beiwerk, und bin meines Zeichens Maler; mein Vater ist Professor an der hiesigen Universität, und wir sind Beide bürgerlich vom Scheitel bis zur Sohle.“

Die Wirkung dieser Worte war eine niederschmetternde; das kleine Burgfräulein saß starr und steif da, wie gelähmt vor Entsetzen, und blickte den bürgerlichen Hans Wehlau an, der ihr so Fürchterliches berichtete. Endlich gewann sie die Sprache wieder, sie faltete die Hände und sagte mit einem tiefen Seufzer:

„Das ist schrecklich!“

Hans erhob sich und machte ihr eine sehr gemessene Verbeugung.

„Ich bekenne mich im vollsten Maße schuldig, aber ich glaubte doch nicht, daß die Wahrheit Sie so erschrecken würde. Jedenfalls habe ich nunmehr in Ihren Augen jede Bedeutung verloren und komme wohl Ihrem Wunsche zuvor, wenn ich Sie verlasse. Leben Sie wohl, Fräulein von Eberstein!“

Er wandte sich zum Gehen; jetzt aber fuhr Gerlinde auf und machte eine Bewegung, als wolle sie ihn zurückhalten.

„Herr Wehlau!“

Er blieb stehen. „Gnädiges Fräulein?“

„Sind Sie nicht ein ganz klein wenig verwandt mit dem Freiherrn Friedrich Wehlenberg auf Bernewitz? Ich meine – nur eine ganz entfernte Verwandtschaft?“

„Auch nicht die allerentfernteste. Ich erfand in der Eile einen Namen, der ähnlich wie der meinige klang, und wußte nicht einmal, daß er in Wirklichkeit existirte.“

„Dann vergiebt es Ihnen mein Papa niemals!“ brach Gerlinde verzweiflungsvoll aus. „Sie dürfen nie wieder nach der Ebersburg kommen.“

„Wünschen Sie denn jetzt noch, daß ich dahin komme?“ fragte Hans.

Sie schwieg, aber die hellen Thränen standen in ihren Augen, und das entwaffnete die Gereiztheit des jungen Mannes. Was konnte denn das arme Kind dafür, daß man es mit diesen Lächerlichkeiten genährt und erzogen hatte? Er kam langsam wieder näher und fragte halblaut:

„Sind Sie mir auch so böse wegen des tollen Streiches? Er war nicht so schlimm gemeint.“

Gerlinde antwortete nicht, aber sie ließ es geschehen, daß er leise ihre herabhängende Hand faßte, und sie hörte auch zu, als er in dem gleichen Tone fortfuhr:

„Herr von Eberstein hängt noch fest an den Traditionen seines Hauses, ich weiß es, und von ihm kann man auch nicht verlangen, daß er im Alter das aufgiebt, was ihm der Inhalt seines Lebens gewesen ist; er gehört nun einmal mit Leib und Seele der Vergangenheit. Aber Sie, mein Fräulein, sollen erst in dies Leben eintreten, und im neunzehnten Jahrhundert muß man mit dem Zeitgeist rechnen und die Dinge nehmen, wie sie sind. Erinnern Sie sich dessen, was ich Ihnen damals auf der Burgterrasse sagte?“

„Ja,“ war die kaum hörbare Antwort.

Hans beugte sich zu ihr nieder; seine Stimme hatte wieder den warmen, innigen Klang, den Gerlinde noch von jener sonnigen Morgenstunde her kannte.

„Auch um Sie haben Vorurtheile und Traditionen eine Dornenhecke gezogen, die riesengroß aufgewachsen ist. Wollen Sie das ganze Leben darin verträumen? Vielleicht kommt bald die Zeit, wo Sie wählen müssen zwischen einer todten Vergangenheit und der hellen, sonnigen Zukunft – wählen Sie recht!“

Er zog die kleine bebende Hand, die noch immer in der seinigen lag, an seine Lippen, und es dauerte ziemlich lange, ehe er sie wieder frei gab; dann verneigte er sich und verließ das Gemach.

Die Gräfin Steinrück befand sich im Gespräch mit Herrn von Montigny, als Gerlinde endlich wieder an ihrer Seite erschien. Der Marquis sprach seine Freude über die Verlobung seines Neffen aus, und es schien ihm Ernst damit zu sein, eben so wie mit der Bewunderung der jungen Braut, deren Anblick ihn heute wie jeden Anderen hingerissen hatte. Er wußte dieser Bewunderung den schmeichelhaftesten Ausdruck zu leihen. Als er sich endlich verabschiedete, um seine Schwester aufzusuchen, wandte sich die Gräfin zu dem jungen Mädchen:

„Wo bist Du denn so lange gewesen, mein Kind?“ fragte sie. „Ich hatte Dich ganz aus den Augen verloren; vermuthlich hast Du wieder einsam in irgend einem Winkel gesessen. Wirst Du es denn nie lernen, Dich in der Gesellschaft zu bewegen wie die anderen jungen Mädchen?“

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