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verschiedene: Die Gartenlaube (1886)

Täusche ich mich nicht, verehrte Frau? Diese Fülle des Stoffes, mit der ich Sie überrascht habe, veranlaßt Sie zu einigem Nachdenken. Ich will Ihnen helfen, den Gedankenfaden weiter zu spinnen.

Die Erfindung ist neu, noch blutjung; wohl 15 Jahre alt! Aber sie erstarkt und wächst so schnell, daß man in ihren ersten Aeußerungen den künftigen Riesen merkt. Nordamerika hat sie schon zum größten Theil erobert, und siegesgewiß steht sie vor den Thoren Deutschlands und Oesterreichs. Welche Rolle wird ihr einst in dem großen Haushalte der Welt zufallen! Greifen wir nur ein Beispiel heraus: die Kartoffel.

Dieses Hauptnahrungsmittel so breiter Volksschichten ist von einem großen Mangel behaftet. Die Kartoffelknolle ist überaus wasserreich, nimmt in Folge dessen viel Raum ein, wiegt schwer, und ihre Versendung auf weite Strecken ist darum mit großen Kosten verbunden. Dieser Uebelstand fällt weg, sobald wir die Kartoffeln dörren, denn 60 Centner frische Kartoffeln schrumpfen im Dörrschacht auf nur 13 Centner zusammen! Die natürliche Kartoffel läßt sich ferner schwer aufbewahren; sie wird alt, welkt, treibt oder keimt aus und fault gar am Ende. Die gedörrte Waare kann jahrelang erhalten werden.

Sinnen Sie weiter nach! Welche Rolle wird die gedörrte Kartoffel einst spielen müssen in der Ausfuhr nach fernen Ländern, in der Versorgung der Massenwirthschaften und der Volksküchen, in der Verproviantirung der Schiffe und endlich der Millionenheere unserer in All und Jedem so großen Zeit!

Aber ich will unsern kühnen Flug über die weiten Gebiete der Volkswirthschaft unterbrechen; für Sie paßt nicht das laute Getümmel des Kampfes ums Dasein, in dem Stände und Völker ringen. Flüchten wir uns in Ihre ruhigen Hausräume, in welchen Sie mit so bezaubernder Anmuth und in friedlicher Stille walten. Die Fortschritte der Neuzeit, welche das Althergebrachte erbarmungslos über den Haufen werfen, sind schon mehr als einmal über die Schwelle Ihres trauten Heims getreten und haben auch dort Wandlungen über Wandlungen hervorgerufen. Aber ich glaube, Sie beklagen nicht den Wechsel der Dinge; das romantische Spinnrad, das einst die Großmutter beim Wiegenlied Ihrer Mutter schwirren ließ, ist verschwunden, aber Sie empfinden gewiß nicht den Verlust desselben; denn die Neuzeit schenkte Ihnen dafür eine viel hilfreichere Freundin, die Tausendkünstlerin – Nähmaschine.

So wird auch aus der neuen Umwälzung auf dem großen Frucht- und Gemüsemarkte der Welt, deren erste Anzeichen sichtbar werden, Ihnen nur Glück und Vortheil erwachsen. Sie werden unabhängig werden von dem Gemüsegärtner und der Jahreszeit; der Reichthum Ihrer Speisekammer wird verzehnfacht; Ihre Einkäufe werden sich billiger, die Zubereitung der Speisen in der Küche wird sich einfacher gestalten; Sie werden vor Allem Zeit gewinnen und die in der Küche entbehrlich gewordenen Stunden der Pflege und Erziehung Ihrer Herzenslieblinge, der weiteren Ausbildung Ihres so wißbegierigen Geistes widmen können.

Damit ist der Zweck meines heutigen Briefes erfüllt, denn ich kann Ihnen nur Anregung geben. Legen Sie Werth auf meine Worte, dann versuchen Sie das Alden-Obst und das gedörrte Gemüse in Ihrer Küche; theilen Sie Ihre guten und schlimmen Erfahrungen Ihren Schwestern mit! Können Sie aber das Gewünschte in Ihrer Stadt nicht sofort erhalten, so verlangen Sie es wiederholt und nachdrücklich. Der Kaufmann ist ein gar kluger und zuvorkommender Mann; er wird Ihnen am Ende aller Enden gewiß Ihren Wunsch erfüllen. Und wenn Tausende Ihrer Schwestern ebenso handeln, dann werden sie durch vereinte Macht dazu beitragen, die Anfänge einer Obstindustrie in Deutschland zu stärken, und eine Bewegung in rascheren Fluß bringen, aus der für Jeden von uns nur ein Gewinn entspringen kann. Das Frauenurtheil fällt bei vielen wirthschaftlichen Fragen schwerer, als Sie denken, in die Wagschale. Möge mit Ihrer Hilfe stets die Schale des Guten sinken!


Blätter und Blüthen.

Ein Justinus Kerner-Jubiläum soll am 18. September auf der Weibertreu bei Weinsberg gefeiert werden. Justinus Kerner ist zwar keine Großmacht der deutschen Litteratur: aber der liebenswürdige schwäbische Sänger hat doch einige Gedichte hinterlassen, welche zum Hausschatze unserer Poesie gehören und im Gedächtniß der Nation Dauer finden werden – und wie viel bleibt zuletzt auch von den Erzeugnissen berühmterer Poeten übrig, wenn Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte darüber hinweggezogen sind! Ein einziges Gedicht, ein einziges Werk genügt für spätere Zeiten, um den Namen eines Dichters nicht der Vergessenheit anheimfallen zu lassen. Doch Justinus Kerner war außerdem eine Persönlichkeit, mit der sich die Zeitgenossen angelegentlich beschäftigten; er war nicht bloß ein stiller Liedersänger, der mit einzelnen seiner Gedichte ein Echo in weitesten Kreisen erweckte: er war durch die merkwürdige Mischung liebenswürdiger Jovialität und treuherziger Gemüthlichkeit mit einer den Nachtseiten des Seelenlebens zugewendeten Forschung und seinem unerschütterlichen Glauben an die magischen Erscheinungen der Geisterwelt eines jener Originale, wie sie kaum eine andere Litteratur aufzuweisen hat. Varnhagen von Ense und David Strauß, dieser Apostel einer entgegengesetzten Weltanschauung, haben ihm warme Gedenkblätter gewidmet; Karl Immermann dagegen verspottete ihn in seinem „Münchhausen“. Es kam darauf an, in welche Beleuchtung sein Bild gerückt wurde: der Liedersänger Kerner fand warme Sympathie, der Spiritist Justinus Kerner verfiel dem Verdammungsurtheil, welches über die Gesinnungsgenossen gefällt wurde, die freilich zum Theil aus ihrem Spiritismus ein Handwerk gemacht haben.

Linderhof vor Erbauung des Schlosses.
Nach einer alten Photographie.

Justinus Kerner war am 16. September 1786 in Ludwigsburg in Württemberg geboren, studirte Medicin, nachdem er längere Zeit in einer Tuchfabrik als Lehrling beschäftigt gewesen, ohne den Tuchsäcken und Indigofässern Geschmack abgewinnen zu können.

Im Jahre 1804 verließ er die Universität Tübingen, wurde 1811 Badearzt in Wildbad und, nachdem er noch mehrmals den Ort seiner medicinischen Praxis gewechselt, 1819 Oberamtsarzt in Weinsberg. Hier gründete er sich ein dauerndes Heim am Fuße der Weibertreu, deren Trümmer durch ihn vom Schutt gereinigt wurden und für deren Restauration er nach Kräften Sorge trug.

Das Dichterhaus in Weinsberg wurde ein gastliches Asyl für wandernde Schriftsteller jeder Art und besonders für jüngere Talente, die des Weges zogen. Im Jahre 1851 legte Kerner, fast ganz erblindet, sein Amt nieder und lebte dann bis zu seinem Tode am 21. Februar 1862 in Weinsberg.

Justinus Kerner ist mit Ludwig Uhland der älteste Veteran der schwäbischen Dichterschule. In Gemeinschaft mit Uhland und Schwab gab er 1812 den „Poetischen Almanach“ und 1813 den „Deutschen Dichterwald“ heraus. Seine eigenen Gedichte erschienen zuerst gesammelt im Jahre 1826, neuere Sammlungen „Der letzte Blüthenstrauß“ 1858 und „Winterblüthen“ 1859. Seine erste Schrift: „Die Reiseschatten von dem Schattenspieler Lux“ (1811) gehörte ganz der romantischen Schule an; dies gilt auch von mehreren seiner Gedichte, wie „Spindelmann’s Recension einer Gegend“, worin er im Stile Ludwig Tieck’s die nüchterne prosaische Weltauffassung geißelt. Andere Gedichte sind von frischer, jugendlicher Heiterkeit beseelt und mit Recht volksthümlich geworden, wie das Lied: „Wohlauf, noch getrunken den funkelnden Wein!“ Einen düsteren gespenstigen Zug tragen oft seine Balladen zur Schau, wie „die vier wahnsinnigen Brüder“ und „Graf Albertus von Kalni“.

Welch ein wunderlicher Heiliger Kerner in der That gewesen, das beweisen seine Schriften über „die Seherin von Prevorst“, der er ja in Weinsberg ein Asyl begründet hatte, um ihre merkwürdigen Enthüllungen registriren zu können. Auch über die dämonischen Erscheinungen, die sich bei einzelnen „Besessenen“ zeigten, machte er Studien und gab Schriften heraus; bisweilen beschäftigte ihn auch eine Spukgeschichte gewöhnlicher Art, wie diejenige, die sich im Amtsgefängniß von Weinsberg abspielte, und von der natürlich „die Glasköpfe“, wie er in seinem jovialen Humor die Männer der nüchternen Aufklärung nannte, nichts wissen wollten.

Wir machen bei diesem Anlaß auf die Schrift: „Justinus Kerner und das Kerner-Haus zu Weinsberg“ von Aimé Reinhard aufmerksam (Tübingen, Osiander), welche einen Lebensabriß des Dichters, mit zahlreichen Anekdoten ausgestattet, enthält und durchweg den Ton warmer Pietät gegen den wackern schwäbischen Sänger athmet, der, trotz seiner Schrullen, sich auf dem deutschen Parnaß behaupten wird. †      

Das Gefängniß der Anarchisten bei New-York. Der Marat der äußersten Linken der Socialdemokraten, Most, hat bekanntlich seinem Schicksal auch in Nordamerika nicht entgehen können und ist zu einjähriger Gefängnißstrafe verurtheilt worden, nachdem der Präsident des Gerichtes noch sein Bedauern ausgesprochen, daß er nach dem Gesetze keine schwerere Strafe über ihn verhängen könne, und nachdem er ihm noch einige der gröbsten Injurien, mit denen Sterbliche bedacht werden können, mit auf den Weg gegeben. Das Gefängniß, in welchem Most und Genossen sich befinden, ist ein langgestrecktes, graues steinernes Gebäude auf der Blackwell-Insel in der Nähe von New-York, sein Name ist „The Penitentiary“. Das Hauptgebäude wurde 1828 errichtet und 30 Jahre später der rechte Flügel angebaut. Es hat nur 800 Zellen; gegenwärtig beträgt die Zahl der Insassen 927 Männer, 788 Frauen und 4 Kinder. Die Zelle von Most ist ziemlich entfernt von derjenigen seiner beiden Schicksalsgenossen Schenk und Braunschweig; doch läge sie auch näher,

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verschiedene: Die Gartenlaube (1886). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1886, Seite 683. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1886)_683.jpg&oldid=- (Version vom 5.12.2022)